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Auserkoren

Titel: Auserkoren
Autoren: PeP eBooks
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gar nicht, wie man jemanden küsst, ich hatte ja in meinem ganzen Leben noch niemanden geküsst, nur meine Familie, und auch denen gab ich nur kleine, flüchtige Küsschen auf die Wangen.
    Joshua schien alle Luft aus mir herauszusaugen, wie wir da auf dem Klavierschemel saßen, und ich musste immer nur an die Sünde denken, die ich gerade beging, aber das störte mich nicht. Nicht im Geringsten.
    »Ich gehe jetzt lieber«, sagte ich, als ich mich endlich von ihm losriss. Meine Hände zitterten und meine Knie waren butterweich.
    Er sagte nur: »Hab keine Angst, Kyra. Ich bin da.«
     
     
    In der Dunkelheit treibe ich mich in der Nähe von Johnsons Wohnwagen herum. Nur die Spitze des Tempels ist erleuchtet, sie weist zum Himmel hinauf. Dorthin komme ich jetzt bestimmt nicht mehr. Nicht nach allem, was ich getan, was ich gedacht habe.

    Je länger ich laufe, desto mehr bemühe ich mich, das, was heute Abend geschehen ist, aus meinen Gedanken zu verbannen, und desto klarer wird mir, dass ich von hier weggehen muss. Dass ich davonlaufen muss.
    »Du hast einen Monat Zeit«, sage ich zu mir, als ich zum Tempel gehe, um auf Joshua zu warten. »Einen Monat, um alles vorzubereiten. Dann musst du gehen.«
     
     
    Am Tempel, genau über dem Doppelportal, ist ein großes Auge aus Stein angebracht. Es ist von Hand behauen und so groß wie ein Auto.
    Das Auge beobachtet uns, wenn wir in die Versammlungen kommen und wenn wir vier Stunden später wieder gehen. Es sieht auf den Parkplatz herab und über die Häuser des Propheten und seiner Apostel. Es sieht den Gemeindesaal und die Gemeinschaftsgebäude und alle vorbeifahrenden Autos. Es sieht die Wohnwagen und unsere Gärten und die Bäume, die sich dahinter bis zum Fluss hinziehen. Es sieht die Menschen, die in dem kleinen Laden von Bruder Greer einkaufen.
    Das Auge sieht uns immer.
    »Es ist Gottes Auge«, sagt Prophet Childs bisweilen. »Er sieht alles. Er sagt mir alles.«
    Früher habe ich von dem Auge geträumt. Ich habe geträumt, dass das Auge blinzelt und umherläuft und nach Süßigkeiten sucht.
    An der Rückseite des Tempels befindet sich ein Treppenschacht aus Beton, er führt zum Hintereingang. Die Tür dort ist immer verschlossen. Der Schacht liegt im
Schatten, auch im heißen Sommer ist es angenehm kühl dort. Und man sieht niemanden in diesem abgelegenen Winkel, erst recht nicht bei Nacht.
    Vor der Treppe hängt eine Kette mit dem Schild ZUTRITT VERBOTEN. Nie kommt jemand dorthin.
    Nur manchmal,
nachts,
    treffen sich Joshua und ich in diesem Treppenschacht. Wir können uns nicht unterhalten, weil unsere Stimmen dort hallen. Aber wir treffen uns trotzdem. Eines Nachts habe ich ihn in diesem Schacht so lange geküsst, dass meine Lippen noch am nächsten Morgen wund waren.
     
     
    Nach ein paar Minuten schon ist Joshua da. Er nimmt mich bei der Hand, zieht mich zu sich und fragt: »Was ist los, Kyra?«
    Woher weiß er, dass ich Angst habe? Hat er es herausgehört, als ich ihn gerufen habe?
    Zuerst bringe ich keinen Laut hervor. Mein Hals ist wie zugeschnürt. Die Worte kommen mir nicht über die Lippen.
    »Sag es mir.« Sein Gesicht ist ganz nahe an meinem. Ich rieche seine Pfefferminz-Zahnpasta. Er fühlt sich so warm an, dass auch mir tröstlich warm wird, so nah an ihn geschmiegt.
    Schließlich löst sich der Knoten in meiner Kehle.
    »Ich bin erwählt worden.«

     
     
    Eines Nachts trafen wir uns beim Tempel. Nirgends brannte mehr ein Licht, denn es war schon nach halb zwölf. Zu dieser Zeit müssen alle im Bett sein. In der Nacht herrscht der Teufel, hat man uns beigebracht, Joshua und ich hätten gar nicht im Freien sein dürfen.
    In dieser Nacht musste ich fast lachen, wenn ich daran dachte. Daran, dass wir alles, was wir taten, eigentlich gar nicht tun durften. Wir durften uns nicht berühren, nicht miteinander flüstern, uns nicht aneinanderschmiegen. Beherrscht mich der Teufel? Beherrscht er meinen Körper? Ist er der Grund dafür, dass ich immer in Joshuas Nähe sein möchte?
    »Kyra«, hatte Joshua geflüstert, als er mich kommen sah. Seine Stimme hatte mich mitten ins Herz getroffen, und alle Bedenken, dass wir etwas Verbotenes taten, waren verflogen.
    In dieser Nacht saßen wir lange heimlich am Tempel und flüsterten miteinander. Er hatte seinen Arm um meine Schulter gelegt. Ich streichelte sein Gesicht, wie Mutter auch Vaters Gesicht streichelt.
    »Ich habe dich heute gesehen«, sagte er, »wie du mit deinen Noten zum Gemeindesaal gegangen
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