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Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten

Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten

Titel: Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten
Autoren: Andreas Scheffler
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zurück. Jetzt wäre es sinnvoll, ins kalte Wasser zu springen. Stattdessen werden die Mädchen mit nassen Handtüchern benetzt. Manchmal im Laufe des Sommers kommt es vor, dass ein Mädchen einen Jungen bei der Hand nimmt und ganz ernst sagt: »Komm mal mit.« Dann gehen sie mindestens hundert Meter weg in eine Ecke, und nun muss das Mädchen mit dem Jungen reden. Denn Jungen können nicht reden. Nicht darüber.
    Ich sehe mich noch vor mir an der Hand von Adriane. 1980. Sie hatte auch noch ihre beste Freundin mitgebracht. Das verhieß nichts Gutes. Wir setzten uns, und ich zupfte vor Verlegen- und Schüchternheit büschelweise Gras. »Andreas, ich muss dir was sagen.« Was würde nun kommen? Wenn sie mir sagen wollte, dass sie mit mir gehen will, und nichts wünschte ich mir damals sehnlicher, dann hätte sie wohl nicht ihre Freundin mitgebracht, ihre Freundin Sylvia, die übrigens ihrerseits mit mir gehen wollte, aber das war mir nichts. Sylvia war größer als ich und entsprach nicht annähernd meinem Schönheitsideal. Adriane dagegen – Mensch, Mensch!« Sie war recht klein. Aber für ihre vierzehn Jahre erstaunlich gut entwickelt. Braune Locken und das strahlendste Lächeln der Welt. Und energisch war sie auch.
    »Andreas, du würdest gern mit mir gehen, stimmt’s?« Ich hatte ihr das nie gesagt, aber sie hatte es gefühlt. Ich betete sie an. »Ich habe dich ja sehr gern …« Und nun kam das böse Aber, das Übel der Jugend, das schlimmste Wort, das es gibt. »Aber …« Kurzum: Ich entsprach nicht ihrem Schönheitsideal. Ich hätte zwar einen tollen Oberkörper, so v-förmig, und auch breite Schultern, aber meine Beine … zu dick. Ich hätte nun sagen können: Dumme Kuh, guckt nur auf die Beine, dabei hab ich doch jede Menge innere Werte! Hab ich aber nicht gesagt, denn es stimmte ja. Ich hatte dicke Beine. Und angesagt waren bei Jungs damals Spinnenbeine in engen Röhrenjeans. Mick Jagger war das Vorbild. Beine wie bei langjährigen Rollstuhlinsassen. Mit dicken Beinen blieb man übrig. Ich war einer von denen, die immer der Arsch sind.
    Alles Gras in Reichweite war ausgerupft. Wenigstens hatte Sylvia die ganze Zeit nichts gesagt. Wir gingen wieder zu den anderen. Ich durfte Adriane den Rücken eincremen. Sie hat sogar ihren Bikini hinten aufgemacht. Aber ich war weder König noch Kaiser. Und dennoch: Wahrscheinlich deshalb, wegen dieses Zeichens von Vertrautheit und Nähe, war ich bis zum Ende meiner Schulzeit der Trottel, der die Hoffnung nie aufgab. Wir gingen ins Kino, in Galerien, spielten Billard zusammen, und gemeinsam haben wir zum ersten Mal einen Pornofilm gesehen. Ich war ihr bester Kumpel. In den nächsten Jahren habe ich ihr noch oft den Rücken eingecremt. Warum auch nicht? Meine Grenzen waren ja klar abgesteckt. So verging meine Pubertät. Mit Rückeneincremen.
    Später haben wir uns aus den Augen verloren. Aber ich bin fast sicher, Adriane wird es irgendwann mit einer gehörigen Portion Wehmut bereut haben, dieses Aber.
    Das alles ist nicht vergessen. Und wegen dieser meiner verkorksten Jugend hätte ich nichts dagegen – nennen wir es ruhig Rache, wenn alle Freibäder geschlossen würden.

Als echter Gütersloher
    Der wichtigste Feiertag, also der, an dem man das Frei-Haben am nötigsten hat, ist eindeutig Neujahr. Denn Silvesterfeiern haben etwas besonders Exzessives. Der Solide sagt sich: »So, einmal im Jahr darf ich mal über die Stränge schlagen«, und nimmt sich vor, ordentlich ein Fass aufzumachen. Weil er aber nichts vertragen kann, ist er schon frühzeitig voll wie ein Eimer, belästigt Mitfeiernde, übergibt sich an einem ungünstigen Ort und schläft lange vor der Jahreswende ein. Derjenige, der auch sonst dem Feiern nicht abgeneigt ist, will zu Silvester alles andere toppen und endet am frühen Neujahrsmorgen mit einer Alkoholvergiftung in einem nahegelegenen Krankenhaus. Ähnlich ergeht es dem mit den guten Vorsätzen, denn vor den Jahren der Askese will er noch mal alles mitnehmen.
    Die meisten Silvesterfeiern verbrachte ich im Partykeller meines ältesten Bruders. Bei solchen Gelegenheiten wurden dort häufig lustige Spiele gespielt. Eines ging so: Jeder schrieb auf einen Zettel eine heitere Aufgabe; alle Zettel kamen in einen großen Bottich, und wenn man beim Mäxchenspiel dreimal falsch lag, musste man einen dieser Zettel ziehen. An sich waren es harmlose Aufgaben: ein zwanzig Minuten lang gekochtes Ei essen etwa, dem Nebenmann die Füße waschen oder zu Hause beim
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