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Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten

Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten

Titel: Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten
Autoren: Andreas Scheffler
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schönsten Marken gab es in der DDR. Unsere Verwandtschaft im Erzgebirge versorgte mich regelmäßig mit »Jagdwaffen aus Suhl«, »Aquarienfische« und »Einheimischen Pflanze«, ganz abgesehen von Hunderten 35-Pfennig-Karl-Marx-Marken. Kurz nach der Wende brach meine Familie den Kontakt ab, weil sich die sächsische Sippe als glühender Verehrer Helmut Kohls entpuppte. Das Briefmarken-Sammeln hatte ich eh schon aufgegeben, und auch die Sache mit den Bierdeckeln läpperte langsam aus. Ich hatte einfach keine Zeit mehr, denn ab achtzehn war ich damit beschäftigt, im Parteibüro herumzuhängen, Flugblätter zu layouten, Leserbriefe zu schreiben, mit Nazis aus Bielefeld Katz und Maus zu spielen und nebenher zu saufen. Ich kannte auch niemanden, der irgendetwas sammelte, außer Susanne. Susanne war Anfang zwanzig, bewegte sich im Umfeld der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) und sammelte erste Male von Jungs. Auch ich bin eine Kerbe in ihrem Gürtel. Das ist eine andere Geschichte, aber ich kann hier aus eigener Erfahrung sagen, dass für Frauen nichts einfacher ist, als einen Jungen in der Spätpubertät ins Bett, auf eine Matratze oder irgendeine andere Unterlage zu bekommen. Etwas Alkohol, ein paar taktile Berührungen, offenkundige Bereitwilligkeit – das reicht schon. Kein Küssen, kein Brustkontakt, also keinerlei Fummelei, es wird nur das Nötigste ausgezogen. Das Ganze ist üblicherweise schnell vorbei, Susanne macht einen Strich auf ihrer Liste, nur darum ging es, nicht etwa um Lust, und man ist wieder sich selbst überlassen. Während meiner Zeit im linken Aktionsbündnis ging es mindestens fünf weiteren jungen Genossen so. Ich habe das ohne Probleme weggesteckt, die meisten anderen wohl auch, aber was Felix angeht, entwickelte sich daraufhin ein Drama. Felix war ein Enkel eines damaligen CDU-Stadtoberen, und so war es nur normal, dass er irgendwann bei uns Jusos landete. SDAJ wäre zu kühn gewesen, aber Jusos, das ging in Ordnung. Felix war damals siebzehn, sprach, als wäre er nie im Stimmbruch gewesen, und war so naiv wie eine Fruchtfliege im Rotweinglas. Er war bei einer Party auf dem Bauernhof von Willies Eltern dran. Als Susanne sich neben den frischen Felix setzte, wussten die meisten von uns Bescheid. Eine knappe Stunde später verschwanden die beiden für etwa zehn Minuten in einem Nebenzimmer. Dann kamen die beiden zurück. Susanne lächelte angesichts der neuen Kerbe in ihrem Gürtel, Felix griente, als hätte er gerade alleine eine große Tüte Gras geraucht. Und dann begann er, sich in einen kleinen Hund zu verwandeln. Susanne ignorierte ihn, aber er wich nicht von ihrer Seite. Sie ließ es zu, dass er sich an ihren Oberarm schmiegte, aber als er versuchte, sie zu küssen, schubste sie ihn weg und zischte ihn an, dass sie das nicht leiden könne. Felix akzeptierte das, denn schließlich war sie die Ältere und Erfahrenere. Er wich nicht von ihrer Seite. Als Susanne einen Joint drehte, anzündete und an ihn weitergab, war er selig. Zwei erste Erfahrungen an einem Abend. Von der ersten war er blöd geworden, von der zweiten musste er eine Weile im Garten verschwinden und unwürdige Geräusche von sich geben. Während Felix kotzte, verließ Susanne mit einem Kumpel die Party. Er hockte noch ein paar Stunden auf einer Matratze herum und schlief dann ein. In den nächsten Wochen verlor er mehr und mehr an Würde. Er ging zu SDAJ-Partys, wenn er vermutete, dass sie da sei. Er bekam raus, wo sie wohnte, und lauerte ihr dort auf. Er schenkte ihr Blumen. Susanne nahm sie, bei Feten ließ sie es zu, dass er für einen Moment seinen Kopf auf ihren Schoß legte, und währenddessen grinste sie ihre dabeisitzenden Freundinnen an. Sie hatte nicht viele Freundinnen, denn sie war ein Luder. Aber sie hatte die meisten Kerben im Gürtel.
    Eines Tages, als Felix nicht aufhören wollte zu erzählen, Susanne und er wären zusammen, hielten wir es nicht mehr aus. Wir waren fünf, die ihn eines Abends beiseitenahmen und von uns und Susanne erzählten. Er hat ein bisschen geweint und dann zu viel Karlsquell getrunken. Im nächsten Sommer ist er nach Israel in einen Kibbuz gezogen. Seine Stimme soll in der Zwischenzeit tiefer geworden sein. Susanne ist alleinerziehende Mutter von Zwillingen, die gerade in der Spätpubertät sind.

Die Hose
    Es war selbstverständlich Klaus, der die Idee mit der Hose hatte. Klaus, der als überzeugter Atheist in die Partei Bibeltreuer Christen eingetreten war, um den Laden
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