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Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Titel: Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
Autoren: José Carreras
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verschont so gut wie keinen, trotz aller Erfahrung, die man im Laufe der Jahre sammelt.

    Die mit Sicherheit schwierigste Prüfung, was die Überwindung seiner Ängste betrifft, hat Carreras in Seattle bestanden. Der Unternehmer Marcel Pascual, einer seiner besten Freunde, den er schon seit über dreißig Jahren kannte, erinnert sich an den Tag, an dem ihm die Geschwister des Tenors kurz vor Weihnachten 1987, nachdem sein Organismus auf eine Knochenmarktransplantation nicht reagiert hatte, mitteilten, das Leben ihres Bruders gehe unweigerlich zu Ende: »Beeil dich, wenn du ihn noch lebend sehen willst.«
    Er nahm die erste Maschine nach London und flog von dort nach Seattle. »Ich habe ihn durch eine transparente Trennscheibe gesehen, mit der man die Leukämiekranken von der Außenwelt isolierte. Er hatte tiefe Ringe um die Augen, war weiß wie Zigarettenpapier, wog gerade noch fünfundfünfzig Kilo und hatte weder Augenbrauen noch Kopfhaare. Um einander begrüßen zu können, mussten wir die Hände in Plastikhandschuhe stecken, die in dieser Trennwand angebracht waren. ›Du siehst ja, wie es um
mich steht‹, sagte er. Auf meinen Versuch, ihm Mut zuzusprechen, gab er zurück: ›Hast recht, wenn Barça verliert, ist das schlimmer.‹ Angesichts dessen, dass er außerordentlich erschöpft war und die Grenze des Ertragbaren erreicht hatte, beeindruckte mich seine Gefasstheit zutiefst. Danach habe ich mit seinen Geschwistern in einem Restaurant in der Innenstadt von Seattle zu Abend gegessen. Es war eine traurige Angelegenheit: Jeder von uns war überzeugt, dass er am Ende war. Doch einige Tage darauf behandelten ihn die Ärzte im verzweifelten Bemühen, seinen Zustand zu bessern, versuchsweise mit einem neuen Mittel, und zu unserer Überraschung geschah das Wunder. Wer so etwas durchlebt hat, dürfte kaum noch vor irgendetwas Angst haben.«

    Carreras, ein ausgesprochen humorvoller Mensch, beherrscht die Kunst der intelligenten, nicht verletzenden Ironie. Einer der Freunde, mit denen er im Sommer eine Yacht zu mieten pflegt, um einige Wochen auf dem Mittelmeer zu segeln, berichtet, dass Carreras einmal alle aus der Fassung gebracht hat. Man wollte auf dem Schiff eine Art Kostümfest veranstalten, was er einfach um einige Stunden vorverlegt hat, indem er sich als Frau mittleren Alters verkleidete. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, dass sich hinter der eleganten, gebildet wirkenden Dame, die aussah, als komme sie vom englischen Hof, der weltberühmte Tenor verbarg. Das ging so weit, dass sich einer der weiblichen Gäste an Bord über die Anwesenheit der Unbekannten wunderte und »sie« fragte, wer »sie« eingeladen habe. Auch die Spaziergänger, denen die »feine Dame« vom Bug aus zuwinkte, als die Yacht in Porto Cervo auf Sardinien anlegte, ließen sich irreführen. Carreras ist auch ein glänzender Witzeerzähler, der die Pointen präzise zu setzen versteht.
    Er bringt es fertig, die Namen von Menschen, gegen die er etwas hat, zu verdrehen, um sie lächerlich zu machen. Das tut er vor allem dann, wenn jemand einer gegnerischen Fußballmannschaft angehört (oder der eigenen, falls er den Betreffenden nicht ausstehen kann), aber auch, wenn er findet, dass jemand überspannt ist. Sein Humor hat ihn einmal sogar dazu veranlasst, als Wettpate bei Wetten, dass …? aufzutreten. Da er die Wette verlor, musste er sich eine Schürze umbinden und in einem Imbiss gegenüber der Wiener Staatsoper Würstchen servieren. An die d reihundert Leute
strömten zusammen, wagten aber nicht, ihren Lieblingstenor um eine Frankfurter mit Senf zu bitten, auch wenn der sie nachdrücklich dazu aufforderte.
    Carreras ist alles andere als ein Hypochonder, sonst hätte er sich wohl kaum einer so schweren Erkrankung wie der Leukämie stellen und die kritischen Augenblicke überstehen können, die das Leben für ihn bereithielt. Die Krankheit hat ihn als Menschen noch mehr reifen lassen, was viel über sein Verhältnis zum Leben sagt: Es entspricht seiner Grundhaltung, alles, was einem widerfährt, als bereichernde Erfahrung anzusehen, und seine Philosophie besteht darin, zu sagen, man müsse aus seinem Leben so viel wie möglich machen. Auch abergläubisch ist er nicht. Luciano Pavarotti hat ihm einmal gesagt: »Abergläubisch sein bringt Unglück«, doch das hatte er schon immer gewusst. Allerdings tritt er nicht gern mit dem rechten Fuß zuerst auf die Bühne, aber das fällt für ihn nicht unter Aberglauben.
    Er ist ein Familienmensch,
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