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Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Titel: Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
Autoren: José Carreras
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und das mehr, als man von jemandem erwarten würde, der stets mit einem Bein im Flugzeug steht – oder gerade deshalb. Wenn er zu Hause ist, fällt es schwer, ihn von dort zu einer Feier oder einer Abendgesellschaft fortzulocken. Er zieht sich dann gern zurück, steht spät auf, liest Zeitungen, hält Mittagsruhe, ist als Großvater für seine Enkel Maria, Miquel, Júlia und Adrià da, sieht sich mit Freunden ein Fußballspiel im Fernsehen an und isst mit seiner Familie zu Abend.

    Ich bin im Laufe der Zeit selbstsüchtiger geworden: Ich habe gern Zeit für mich und möchte Freiräume nutzen können. Ständig umgeben mich Menschen, von denen ich viele nicht einmal kenne, daher genieße ich das Leben im kleinen Universum meiner Familie und meiner Freunde. Das ist alles andere als einfach, wenn man zehn von zwölf Monaten auf Reisen ist.

    Es gab eine Zeit, in der er so gut wie alle zwölf Monate im Jahr von einem Opernhaus zum nächsten und von Flugzeug zu Flugzeug geeilt ist. Sein Sohn Albert erinnert sich, dass er vermutlich zu den ganz wenigen Kindern gehörte, denen die Heiligen Drei Könige die in Spanien an diesem Tag üblichen
Geschenke früher brachten, weil der Tenor da gerade zu Hause war. »Meine Eltern haben mir dann gesagt, dass die Heiligen Drei Könige bei uns eher vorbeikommen würden als am sechsten Januar, weil sie auf dem Weg nach Barcelona seien und wir in l’Ametlla del Vallès lebten, vierzig Kilometer von dort entfernt.« Carreras hat ein schlechtes Gewissen, weil er seine Kinder nicht hat heranwachsen sehen, was er liebend gern getan hätte. Albert ist seinem Vater sehr ähnlich, nicht nur körperlich, sondern auch vom Wesen her, während Júlia mit ihrer Sanftmut und Zärtlichkeit ihrer Mutter nachschlägt. Im Laufe der Jahre ist die Familie immer enger zusammengerückt, als gelte es, die verlorene Zeit aufzuholen. Sie behandeln einander liebevoll und so feinfühlig, als fürchteten sie, sich gegenseitig wehzutun.
    Seine Bekannten behaupten, dass er sich trotz seiner starken Persönlichkeit Frauen gegenüber nicht durchsetze, aus Sorge, er könne sie verletzen. Carreras versichert aber, dass es sich dabei keineswegs um generelle Schwierigkeiten im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht handele, sondern es ihm bisweilen ganz allgemein schwerfalle, sich zu behaupten. Wenn er aber einmal richtig ärgerlich wird, neigt er dazu, über das Ziel hinauszuschießen. Geprägt hat ihn, dass er die Mutter, die das Rückgrat der Familie bildete, schon in jungen Jahren verloren hat. Ihr Tod hat die Wirklichkeit um ihn herum verwischt, und er hatte das Gefühl, der Welt auf sich allein gestellt gegenübertreten zu müssen. Mercè, die Mutter seiner Kinder, lernte er im fünften Rang des Liceu kennen, als ihm die Eltern erstmals ein Abonnement für dieses Theater gekauft hatten. Sie haben geheiratet, als er vierundzwanzig Jahre alt war, nachdem sie schon einige Jahre »miteinander gegangen« waren, wie man früher sagte.
    Einige gemeinsame Freunde hatten ihn mit Mercè bekannt gemacht. Sie wusste damals nicht einmal, dass er Opernsänger werden wollte.

    Mercè war für mich in diesen Jahren der Ausbildung eine wichtige Stütze. Sie arbeitete damals im Schallplatten- und Elektrogeschäft ihres Vaters, Radio Martín, in der Passage des Hotels Manila an den Ramblas. Von meinen Honoraren für die Auftritte der ersten Jahre konnten wir existieren, aber viel mehr war es auch nicht. Wir
lebten damals in einer Mietwohnung von kaum siebzig Quadratmetern in der Calle Ganduxer in Barcelona. Als Albert zur Welt kam, haben wir eine etwas größere, sehr schöne Mietwohnung im Dachgeschoss eines Hauses an der Avenida Infanta Carlota bezogen. 1978 haben wir angefangen, in l’Ametlla del Vallès ein Haus mit Gartengrundstück zu bauen, denn inzwischen hatte sich unsere wirtschaftliche Lage gebessert, und ich begann auf der Bühne Triumphe zu feiern. Da ich auch damals schon häufig nicht zu Hause war, kam Mercè für die Erziehung unserer Kinder eine ganz entscheidende Bedeutung zu.

    Seiner späteren Gattin Jutta, einer gebürtigen Österreicherin, die er bereits viele Jahre zuvor kennengelernt hatte, lief er eines Tages im Jahre 2007 zufällig in Wien über den Weg, der Stadt, die ihm nach Barcelona am meisten am Herzen liegt. Beiden kam es so vor, als habe die Zeit seit ihrer ersten Begegnung stillgestanden. Carreras hatte sich schon vor einer ganzen Weile von seiner ersten Frau getrennt, versteht sich aber nach wie vor
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