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Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Eine Politik, die heute eine Weltanschauung aufstellen wollte, beginge ein Verbrechen. Notwendigerweise total in der Wirtschaft, würde sie zu einem Moloch, der alles verschlingt. Der Einzelne wäre gezwungen, um sie wie um eine Sonne zu kreisen, während er doch selbst eine Sonne werden muß.« Er war bei diesen Worten bleich geworden. Es war nun meine Aufgabe, die Ruhe zu bewahren, um mein Ziel zu erreichen.
    »Ich habe immer wieder in Ihren Schriften gelesen«, fuhr der Beamte fort. »Fassungslos, wie ich zugebe. Ich finde es ungeheuerlich, wie Sie die Wirklichkeit verkennen.«
    »Ich erkenne die Wirklichkeit sehr genau«, sagte ich ruhig.

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    »Aber kommen Sie bitte nicht immer auf meine Schriften zurück.«
    »Ich muß darauf zurückkommen!« rief der Beamte mit einer Entschlossenheit aus, der ich nachgab, um nicht alles zu verderben. (Es galt, wie ich schon ausführte, immer wieder klug zu sein.) »Sie schildern die Stadt als grau, schmutzig, zerfallen, als halb zerstört. Nun gut, sie ist so, genau so, aber ist dies unser Werk? Es ist Ihr Werk. Sie sehen sich selbst, wenn Sie durch die Stadt gehen, Sie blicken in das Innere Ihres eigenen Herzens.«
    »Das ist nun doch wohl etwas übertrieben«, sagte ich gelassen.
    Der Beamte schwieg eine Weile und schaute mich aufmerksam an. Es war, als ob er eine Antwort unterdrücke, die ihm auf der Zunge lag. Im Zimmer war es dunkel geworden. Vom Hofe tönte nur noch vereinzeltes Kinderlachen herauf.
    »Die Welt ist durch die letzten Kriege zerstört, die ebenso grausam wie sinnlos waren«, begann er endlich von neuem.
    »Das wissen Sie genau, und das weiß auch ich. Es ist Unsinn, es zu leugnen, und die Leute sind noch dumpf und benommen, mißtrauisch und müde. Wir alle sind müde. Die Arbeit ist riesenhaft, die zu tun ist, um allen jenen Wohlstand zu verschaffen, der menschenwürdig ist, denn ihre gegenwärtige Armut ist unmenschlich. Sie ist die Folge des Krieges. Sie beklagen sich darüber und sind gleichzeitig bereit, im Tibet mitzumachen. Wem gehörte denn die Welt, bevor wir sie übernehmen mußten? Ich denke, euch, den Abenteurern, ob ihr nun Soldaten oder Staatsmänner wart, ob ihr nun Fabriken oder Waffen in den Händen hieltet, ob ihr nun nach Reichtum oder nach einer anderen Gewalt getrachtet habt, sie gehörte euch und nicht den Unzähligen, den Ungenannten, den Geschobenen und Hilflosen, die am Grunde eures Stroms mitgeschleppt wurden. Diese Welt ist euer Werk, ob ihr es beabsichtigt habt oder nicht. Die grauen Steinwüsten, die halbzerbrochenen 129

    Häusermeere, die häßlichen Fabriken, die alten Automobile, die verrosteten Treppengeländer, die zerlumpte Masse der Arbeiter, was auch immer diese Welt trostlos macht, und was auch immer Sie mit Ekel feststellen, ist eure Tat. Da stehen wir nun vor dem, was wir von euch geerbt haben, vor dieser Welt voll Elend und Ruinen. Nun müssen wir die Kehrichthaufen eurer Feste wegräumen. Ihr habt den Reichtum dieser Welt ver-schleudert, nun müssen wir eure Schulden zahlen. Ihr habt die Abenteuer dieses Lebens gehabt, den Genuß der Herrlichkeit dieses Planeten, die Fahrten über die Bläue der Meere, und wir haben die Alltäglichkeit, die Fabriken und die Enge, die Eintönigkeit unserer Arbeitstage. Ihr ginget zugrunde, wir müssen weiterleben. Unser Leben war immer so, nur das eure war anders. Wir waren immer arm, die Schönheit der Welt ein trügerischer Schein, nun riß die dünne Haut. Nackt zeigt sich unsere Armut. Die Stadt ist die Wirklichkeit, wie sie immer war, die Wahrheit, die hinter den verbrannten Kulissen eurer Taten zutage tritt.« Die Nervosität des Beamten war gewachsen. Er drückte die Zigarette aus und bot mir eine neue an, die ich ablehnte, da meine noch nicht zur Hälfte niedergebrannt war. Seine Hand zitterte, wie er sich Feuer geben wollte, mehrere Male setzte er vergeblich an, bis ich ihm Feuer bot.
    Er nahm zwei Züge und drückte dann die Zigarette wieder aus.
    »Sie sind nervös«, sagte ich mit der Absicht, ihn noch mehr zu verwirren.
    »Gewiß«, antwortete er wütend. »Ich kann nicht bestreiten, daß mich Ihr Fall erregt«, und plötzlich packte er mich über den Tisch hinweg mit einem Eisengriff beim Kragen.
    »Mensch«, schrie er, »siehst du denn nicht, daß es darum geht, die wahren Abenteuer zu finden, die Abenteuer des Geistes, der Liebe und des Glaubens, die Abenteuer, die allein der Einzelne zu finden vermag!«
    »Geben Sie mir diese Abenteuer und lassen Sie die Hand
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