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Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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das abzulehnen Sie natürlich frei sind. Bevor die Verwaltung jedoch gezwungen ist, dies zu tun, möchte sie Ihnen noch einmal die Chance anbieten, die jedem noch offensteht. «
    »Die Chance, in der Masse unterzutauchen.«
    »Eben diese«, sagte er.
    »Menschenfreundlich«, sagte ich.
    »Sie schätzen die Aufgabe der Politik falsch ein«, fuhr er wieder mit seinen Theorien fort: »Die alte Politik wollte mehr sein, als sie sein konnte, und wurde dadurch zur Phrase. Die Not zwang uns, die Politik neu zu überdenken. Aus einem unentwirrbaren Knäuel der Ideologien, der Leidenschaften, der Instinkte, der Gewalt, des guten Willens und der Geschäfte wurde die Politik zu einer Sache der Vernunft, ebenso sachlich wie nüchtern. Sie wurde zu einer Oekonomie, zu einer Wissenschaft, den Erdball für den Menschen nutzbar zu machen, zu der Kunst, auf diesem Planeten zu wohnen. Der Krieg wurde unmöglich, nicht weil die Menschen besser wurden, sondern weil ihn die Politik wie ein veraltetes Mittel nicht mehr brauchen konnte. Ihre Aufgabe ist nicht mehr, die Staa-ten voreinander zu sichern, sondern aus der Erde einen großen, gleichsam mathematischen Raum zu schaffen, der sozial gesichert ist.«
    »Mit dieser Politik locken Sie keinen Mund hinter dem Ofen hervor«, lachte ich.
    »Diese Politik ist uns aufgezwungen«, sagte er. »Wir können 126

    uns keine andere mehr leisten.«
    »Und die Freiheit?« fragte ich.
    »Sie ist das Ziel des Einzelnen geworden«, antwortete er.
    »Dann kann der Einzelne nur noch frei sein, wenn er zum Verbrecher wird«, sagte ich kühn. »Verzeihen Sie, daß ich Ihren Abstraktheiten eine logische Krone aufsetze. «
    Der Beamte sah mich an. »Diesen falschen Schluß befürchten wir sehr bei Ihnen«, sagte er.
    Wir schwiegen. Es war mir einen entsetzlichen Augenblick lang, als ob er mich durchschaut hätte und nun alles wüßte, als ob ich vor einem Richter säße, der auf eine unbegreifliche Weise mein Schicksal in Händen hielt. Draußen im Hof lachten immer noch die Kinder. Der Rauch der Zigaretten bildete im Licht blaue Spiralen und Ringe, Wolken, die sich verdichteten, sich drehten und verschwanden, Figuren, wie sie die Astronomen in der Unendlichkeit des Raumes auffinden.
    »Die Politik kann mit der Zeit der Menge die Möglichkeit geben, menschenwürdig zu leben, aber sie kann ihr nicht den Inhalt eines solchen Lebens geben. Dies muß jeder einzelne. In dem Maße, wie die Chancen der Menge vermindert sind, ist die seine gewachsen. Wir waren gezwungen, neu zu unterscheiden, was des Kaisers und was des Einzelnen ist, was der Allgemeinheit zukommt und was der Persönlichkeit. Es ist an der Politik, den Raum zu schaffen und am Einzelnen, ihn zu erhellen.«
    »Das ist liebenswürdig, uns wenigstens die bescheidene Rolle einer zwar dürftigen, aber doch braven Talgkerze zu überlassen«, spottete ich, wieder gefaßt. »Ihr gebt dem Menschen nichts und verlangt alles von ihm.«
    »Wir geben ihm das Brot und die Gerechtigkeit«, sagte der Beamte. »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, bemerkten Sie vor kurzem. Es freut mich, daß Sie in der Bibel bewandert sind, doch ist es ein zynischer Satz im Munde eines Menschen, der den Schluß zu ziehen vermag, nur noch im Verbrechen 127

    liege die Freiheit.«
    Aus diesem plötzlichen Ausfall konnte ich schließen, daß ihn das Gespräch viel mehr in Erregung setzte, als es den An-schein hatte.
    »Was der Mensch mehr als Brot und Gerechtigkeit braucht, kann ihm keine Politik und keine Organisation geben«, fuhr er wieder sachlich fort. »Die Politik gibt dem Menschen, was sie vermag, und sie vermag wenig mehr als nichts, nur das Selbstverständliche, dann läßt sie ihn fallen. Sein Glück ist nicht Sache der Politik.«
    »Sie haben uns fallengelassen«, entgegnete ich bitter, »da haben Sie recht. Wir fielen in eine hoffnungslos verspießte Welt von versorgten Kleinbürgern (ich sehe von der schlecht funktionierenden Kehrichtabfuhr, von dem ungenügenden Bauprogramm und ähnlichem ab). Überhaupt macht es sich die Verwaltung mit alledem verteufelt leicht. Sie gibt nur eine abstrakte Ethik, die keinen Menschen begeistert.«
    »Wir haben es nie als eine Aufgabe angesehen zu begei-stern«, antwortete der Beamte, und seine Stimme wurde leidenschaftlicher: »Als ob eine Verwaltung etwas zum Begei-stern wäre. Einer bloßen Notwendigkeit soll man keine Vereh-rung entgegenbringen, sonst mache man darin bitte auch nicht vor den öffentlichen Bedürfnisanstalten halt.
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