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Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand

Titel: Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand
Autoren: Ameneh Bahrami
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bösartigen Zischen und Gurgeln in seiner Augenhöhle.
    Aber irgendwann wird er schreien. Wenn er wieder aufwacht. So, wie ich jeden Morgen schreie. Lautlos schreie, wenn ich meine Augen öffnen möchte und es nicht kann. Es nie wieder können werde, weil er mir alles geraubt hat – meine Augen, mein Leben, meine Unschuld, meine Schönheit. Er wird schreien. Anfangs laut und durchdringend. Und er wird weinen. Ihm wird nicht mehr viel bleiben im Leben. Nur die Bilder in seinem Kopf und die Träume, die sich nie erfüllen werden. Diese ewig wiederkehrenden Träume werden ihm bleiben. Alles andere ist weggeätzt, verbrannt, zerstört.
    Ich kann nichts mehr sehen, und ich kann mich nicht mehr sehen.
    Manchmal bin ich froh und dankbar dafür, dass Allah es mir erspart hat, mein Spiegelbild zu betrachten. Sonst müsste ich Tag für Tag in ein Gesicht schauen, das nicht mehr meines ist. Ein Gesicht, das fremd, hässlich und entstellt ist.
    Ihm wird sein Gesicht bleiben, auch wenn er es durch seine feige und grausame Tat längst verloren und durch eine hässliche Fratze ersetzt hat. Damit wird er leben müssen.
    »… Ameneh, dein Blindenstock ist dir lästig, stimmt’s?« Die junge Bäckereiverkäuferin riss mich aus meinen Gedanken.
    »Ich hasse ihn«, sagte ich zu der Frau, die ihre warme Hand auf meine Schulter gelegt hatte.
    »Das sieht man dir an.«
    »Ich kann ihn nicht ausstehen, aber ich bin auf ihn angewiesen. Er ist jetzt mein Auge. Ohne ihn könnte ich nicht einmal das kleine Stück bis zu deinem Laden gehen.«
    »Warum schaffst du dir keinen Blindenhund an?«
    »Ich wünschte, die Wissenschaft käme eines Tages dahin, mir mein Augenlicht wiederzugeben.«
    »Ja«, sagte sie, »das wäre schön. Aber wer weiß, was morgen sein wird!«
    Sie hatte recht. Wer wusste schon, was morgen ist? Vielleicht kommt ja tatsächlich der Tag, an dem ich wieder sehen kann. Als die Menschen einst vom Fliegen träumten, hätte auch niemand geglaubt, dass wir eines Tagen innerhalb weniger Stunden von einem Kontinent zum nächsten reisen können. Wie gerne würde ich Barcelona mit eigenen Augen sehen! Spazieren gehen, den Himmel sehen, die Menschen, die Erde zu meinen Füßen, Gärten, Bäume … Wenn ich könnte, würde ich sofort loslaufen, mich an den Strand setzen und den Wellen zuschauen. Oder ich würde auf den Tibidabo steigen, den Himmel und die Stadt von dort oben aus betrachten.
    Zu schade, dass ich nicht in den Park Güell gehen kann, um Gaudís Mosaiken und Skulpturen zu bewundern, von denen alle so schwärmen. Stattdessen muss ich mich auf die allernächste Umgebung meiner Wohnung beschränken – gehe immer nur zwei Straßen hin, zwei Straßen her.
    Ich verabschiedete mich von der jungen Verkäuferin, verließ die Bäckerei, kaufte in einem benachbarten Laden eine Handvoll Audiokassetten und kehrte in mein Zimmer zurück. Mein Buch wartete auf mich. Meine Geschichte, die ich endlich selbst erzählen wollte, nachdem so viele Zeitungen und Magazine weltweit über meinen Fall berichtet hatten. Und dabei nur ganz selten die wahre Geschichte erzählt haben. Es lag nun an mir selbst, mich mit meinem Leben auseinanderzusetzen und es schließlich zu Papier zu bringen.
    Ich wohnte zu jener Zeit – im Juli 2009 – in Barcelona bei Maria-Rosa zur Miete, einer mürrischen alten Dame, die mich von morgens bis abends drangsalierte. Sie brachte mich an manchen Tagen an den Rand der Verzweiflung. Wenn der Zigarettenrauch in dicken Schwaden unter meiner Tür hindurch in mein Zimmer drang, weil sie wieder einmal schlecht gelaunt war. Dabei wusste sie natürlich, dass meine Lungen seit dem Angriff sehr empfindlich reagierten und ich von ihren Zigaretten heftige Hustenanfälle bekam. Das Fenster zu öffnen half gar nichts, zumal im Winter, wenn sie mir mit knappen Worten erklärte: »Gas ist teuer«, ihre Miete kassierte und die Heizung nicht anstellte. Dagegen konnte ich mich nicht wehren, schließlich wusste Maria, was auch mir klar war: Ohne Augenlicht und ohne Geld würde ich nie eine andere Unterkunft finden.
    Aber es gab einen guten Grund für Maria-Rosas Verbitterung, schließlich hatte die alte Frau bei einem Unfall auf einen Schlag ihren Mann und ihren Sohn verloren. Und doch fragte ich mich in den vielen kalten Wintertagen, ob sie eines Tages verstehen würde, was sie mir angetan hat? Dass sie mich mitunter behandelte, als ob ich irgendeine geheime Mitschuld an ihrem Schicksal hätte …
    Ich wandte den Kopf in Richtung
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