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Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand

Titel: Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand
Autoren: Ameneh Bahrami
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Kinder im Untergeschoss spielen.
    Auf dem Weg nach unten begegnete ich – noch keine sechs Jahre alt – einem jungen Mann, wohl um die zwanzig, der mich freudig begrüßte: »Ja, sieh mal einer an, wer bist du denn, du hübsches Kind?«
    »Ich bin Eqbals Tochter, und wir gehen jetzt spielen«, gab ich unbefangen zur Antwort.
    »Na, dann will ich euch mal Gesellschaft leisten«, meinte der junge Mann und strich mir dabei übers Haar. Was ich zunächst für eine harmlose freundliche Geste hielt, machte mir bald Angst, denn der junge Verwandte berührte mich in den nächsten Minuten noch mehrmals und gar nicht mehr so beiläufig, wie es zunächst schien. Als er schließlich vorschlug, »Blinde Kuh« zu spielen, und mir vor allen anderen die Augenbinde anlegen wollte, wehrte ich endgültig ab, ließ meinem Bruder den Vortritt und flüchtete atemlos, während er Mohammad die Augen verband, zu meinem Vater auf den Schoß.
    »Du bist ja ganz aus der Puste, Ameneh, Kind, was ist denn passiert? Hat dich jemand geärgert?«
    »Nein!«
    »Wo ist Mohammad?«
    »Der spielt unten noch mit den anderen.«
    »Und du spielst du nicht weiter? Ist dir die Lust vergangen?«, fragte mein Vater, der zu spüren schien, dass etwas vorgefallen war, worüber ich nicht sprechen mochte. Von jenem Tag an aber war mir klar, dass Jungenkleider mir tatsächlich einigen Ärger ersparen würden. Fortan trug ich kein einziges Mädchenkleid mehr – bis zu meinem ersten Schultag.
    »Eines Tages bist du alt genug«, hatte meine Mutter immer gesagt, wenn ich ungeduldig fragte, wann ich endlich zur Schule gehen könnte. Ich begriff kaum, warum Nachbarskinder mich darum beneideten, dass ich mich nicht mit Hausaufgaben quälen und keine kostbare Freizeit für lästige Schulpflichten opfern musste. »Alles zu seiner Zeit«, hieß es oft aus Mutters Mund. Und dann war es endlich so weit, aber schon bald plagte mich eine neue Sorge: Was konnte ich tun, um gute Diktate zu
schreiben? Meine Noten in Mathematik und allen anderen Fächern waren mehr als passabel. Wenn es aber ans Diktateschreiben ging, versagte ich regelmäßig. Höchstens zwei von zwanzig möglichen Punkten bekam ich jedes Mal. Nichts wünschte ich mir damals sehnlicher – und vergeblicher – als einen Zauberstift, der mir zwanzig Punkte bescheren würde.
    Meine Mutter übte stundenlang Diktate mit mir, obgleich sie ja auch mit meinen Geschwistern genug zu tun hatte. Nicht zuletzt, weil in jener Zeit meine kleine Schwester Schadi zur Welt kam und wir nun zu siebt waren: meine Eltern, meine große Schwester Schirin, ich, mein zwei Jahre jüngerer Bruder Mohammad, dann Farhad, drei Jahre jünger als Mohammad, und schließlich Schadi, das Nesthäkchen. Vater schärfte uns allen ein: »Lernen, lernen und noch mal lernen. Alles andere ist uninteressant.«
    Und dann geschah ein kleines Wunder. Vor Glück lief ich auf dem Heimweg von der Schule laut rufend durch unsere Straße, schwang mein Diktatheft wie eine Trophäe überm Kopf: »Mama! Schau, was ich hier habe ...!« Mir war völlig egal, was die Nachbarn über mich denken mochten. Für deren Kinder waren dreizehn Punkte im Diktat vielleicht normal. Für mich aber waren sie ein historischer Sieg! Zu schade, dass er einmalig blieb. Und da ich meinen Erfolg nicht wiederholen konnte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich künftig krankzustellen, wenn ein Diktat auf dem Stundenplan stand. Meine Mutter spielte sogar mit. Sie brachte mir Medizin ans Bett, führte lange Gespräche mit mir – bis mir eines Tages Zweifel kamen. »Was der liebe Gott wohl zu meiner Schummelei sagt? Und überhaupt, wann kann ich ihn endlich sehen, Mama? Ich bin doch brav, wenn man unseren kleinen Trick nicht mitrechnet. Ich ärgere Mohammad nicht, kümmere mich um Schadi, lerne fleißig ... Warum sehe ich Gott nicht in seiner Schönheit, von der Papa immer so schwärmt?«
    »Liebes Kind«, belehrte mich meine Mutter, »keiner von uns kann Gott sehen. Er ist so viel größer als wir Menschen.«
    Sie setzte sich zu mir aufs Bett und sprach weiter: »Als du noch ein kleines Mädchen warst, hat dein Vater dir gesagt, dass, wenn du brav bist, du Gott eines Tages sehen würdest. In Wahrheit aber kann man ihn nicht so sehen, wie man Menschen und Dinge sieht.«
    Da saß meine Mama also und eröffnete mir zwei bittere Wahrheiten auf einmal. Erstens: Ich würde Gott nie sehen können. Und zweitens: Mein Vater hatte mich belogen.
    »Wie kannst du an einen Gott glauben, ihn
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