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Auge des Mondes

Titel: Auge des Mondes
Autoren: Brigitte Riebe
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lediglich, weil er so gut wie kein Wort verstand?
    Auch die umstehenden Frauen schien seine Gegenwart unruhig zu machen. Sie begannen zu scharren, traten von einem Bein auf das andere, schauten sich um, und zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit löste sich plötzlich eine aus der Menge, schob die anderen beiseite und ging mit ihrem vollgepackten Korb einfach weg.
    Jetzt hob der Perser den Kopf. Schmale, blaue Augen, um einiges heller, aber kaum minder leuchtend als der Stein an seiner Linken, sahen Mina an, so intensiv und bezwingend, als schauten sie geradewegs in ihr Herz.
    Ein leichter Schwindel erfasste sie. Ihr war, als würde sie von einem unsichtbaren Riesen hochgehoben und in die Luft geschleudert. Mit trockenem Mund gelang es ihr gerade noch, die Geschichte halbwegs anständig zu Ende zu bringen, und als die Frauen vernommen hatten, dass die Lüge zur Strafe geblendet und von da an zum blinden Türhüter des Hauses der Wahrheit gestempelt worden war, seufzten einige vor Erleichterung.
    Trotzdem schienen es alle auffällig eilig zu haben, nach Hause zu kommen; der Kreis löste sich schneller auf als gewöhnlich, und als Mina einen Blick auf die hinterlassenen Gaben warf, musste sie feststellen, dass heute in der Tat ein ungeheuer genügsamer Tag sein musste. Sie klaubte alles zusammen, obwohl die Früchte matschig und angeschlagen waren und das Fladenbrot seine besten Stunden hinter sich hatte.
    Das Katzenkreischen schraubte sich weiter nach oben, erklomm die schrillsten Höhen. Dann war es abrupt still.
    Der Fremde war schon ein ganzes Stück entfernt, als er sich noch einmal zu Mina umwandte. Obwohl es nicht die Spur einer Ähnlichkeit gab, musste sie plötzlich an Chai denken, ihren verstorbenen Mann. Sie biss die Zähne zusammen, um nicht auf der Stelle loszuheulen. Plötzlich hatte sie wieder seinen warmen, leicht nussigen Geruch in der Nase, den sie beim morgendlichen Aufwachen besonders an ihm geliebt hatte. Es war, als stehe, nein, als liege Chai neben ihr, als sei er niemals fort gewesen.
    Scheinbar wird es immer noch mehr, dachte Mina voller Wehmut, was ich nicht vergessen kann. Sieht ganz so aus, als würde ich langsam alt.

    Als das Beben und Flimmern der weißen Hausmauern einem sanfteren Licht gewichen war, tauchte Ameni auf. Mina entdeckte den Neffen schon von Weitem, wie er schnellen Schritts den großen Platz überquerte, auf den sich inzwischen nachmittägliche Ruhe gesenkt hatte: seine athletische, hoch aufgeschossene Gestalt, als befinde er sich noch im Wachstum, die stets zerwuschelten schwarzen Haare, die ein ovales Gesicht mit großen Augen umrahmten, ein Kinn, das immer auf sie wirkte, als hätte er es heimlich einem energischeren Geschlechtsgenossen abgeluchst. Er schlenkerte mit seinen langen Armen und begann bereits ungeduldig loszureden, noch bevor er neben ihr stand.
    »Da bist du ja! Wo warst du denn bloß die ganze Zeit? Hab dich schon überall gesucht.« Ähnlich wie seine Mutter Tama schaffte er es, selbst in die einfachsten Sätze ein ordentliches Maß an Vorwurf zu packen.
    »Da, wo ich fast jeden Tag bin«, erwiderte sie, ohne die Stimme zu heben. »Willst du auch ein Bier? Die Wirtin hat gerade gebraut.«
    »Ich kann doch jetzt nichts trinken!«, sagte er, äugte aber bereits begehrlich nach ihrem Becher.
    »Was ist es denn dieses Mal?« Ameni besaß das untrügliche Talent, sich in zweifelhafte Situationen zu verwickeln, aus denen er ohne fremde Hilfe nicht mehr herausfand. »Spielschulden? Gefälschte Wetten? Ein garantiert einträgliches Geschäft, das sich im letzten Augenblick leider doch zerschlagen hat? Oder hast du dich nur wieder mit deinem Vater zerstritten?«
    Stumm schüttelte er den Kopf. Mina spürte die Unruhe, die von ihm ausging.
    »Schlimmer«, sagte er gepresst. »Viel, viel schlimmer.«
    Etwas Kaltes rührte an ihr Herz. Der Junge war unvernünftig und impulsiv und hatte sich schon so manchen Unsinn geleistet, aber wäre er auch zu einem Verbrechen fähig?
    »Du hast doch nicht etwa gestohlen, Ameni? Oder jemanden niedergeschlagen?«, fragte sie eindringlich.
    »Natürlich nicht - was denkst du denn von mir, Tantchen!« Er errötete.
    Mina entschloss sich, die Anrede zu übergehen, obwohl sie diese hasste und Ameni sehr genau wusste, wie sehr sie es tat. Aber er kam ihr aufgelöst vor, so jämmerlich, dass sie Mitleid bekam.
    »Frauengeschichten?«, riet sie weiter. »Ist es das?«
    Er zuckte zusammen, wie von einem unsichtbaren Schlag getroffen.
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