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Auferstehung 4. Band (German Edition)

Auferstehung 4. Band (German Edition)

Titel: Auferstehung 4. Band (German Edition)
Autoren: Lew Tolstoi
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Diener stehen vor dir auf! Ich aber bin nicht dein Diener. Du trägst das Zeichen auf der Stirn!« fuhr der Greis mit lauter Stimme fort.
    »Was heißt das?« fragte der Direktor in drohendem Tone.
    »Ich kenne diesen Mann!« sagte Nechludoff. »Es ist ein Original. Warum ist er im Gefängnis?«
    »Die Polizei hat ihn uns wegen Landstreichern geschickt! Wir bitten sie, sie möchte uns niemand mehr schicken, aber das ist wie in den Wind gesprochen,« erklärte der Direktor.
    »Du gehörst also auch, wie ich sehe, dem Heere der Antichristen an,« sagte der kleine Greis, sich an Nechludoff wendend.
    »Nein, ich bin hier nur zum Besuch,« versetzte Nechludoff.
    »Haha! Du wolltest sehen, wie der Antichrist die Menschen quält? Nun, sich nur hin, sieh dir's an! Er hat sie gepackt und in den Käfig gesperrt, so viel, daß er damit ein ganzes Heer bilden könnte! Die Pflicht der Menschen ist es, sich ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts zu verdienen, und er, der Antichrist, hält sie hier eingesperrt, und ernährt sie ohne Arbeit, wie die Schweine, um Schweine aus ihnen zu machen.«
    »Was sagt er?« fragte der Engländer.
    Nechludoff erwiderte ihm, der Greis beschuldige den Direktor und seinesgleichen, menschliche Wesen aller Gerechtigkeit zuwider eingeschlossen zu halten.
    »Fragen Sie ihn doch, wie man sich seiner Ansicht nach, denen gegenüber verhalten soll, die das Gesetz nicht beobachten,« sagte der Engländer lächelnd.
    Nechludoff übersetzte die Frage.
    Der Greis begann zu lachen und zeigte dabei einige schwarze und abgebrochene Zähne.
    »Das Gesetz!« lies er verächtlich; »ach ja, davon rede nur! Er hat sich zuerst der Erde bemächtigt, er hat alle Menschen ihrer Reichtümer beraubt, er hat alle diejenigen unterdrückt, die ihm widerstrebten; und dann hat er das Gesetz geschrieben und erklärt, man dürfe weder stehlen noch töten! Ich erkläre dir, vorher hat er sein Gesetz nicht geschrieben!«
    Als Nechludoff ihm diese unerwartete Antwort übersetzt hatte, lächelte der Engländer von neuem und sagte:
    »Ach, fragen Sie doch, wie man heut' den Dieben und Mördern gegenüber verfahren soll!«
    »Du wirst ihm antworten,« sagte der Greis zu Nechludoff, der ihm diese Frage übermittelt, »du wirst ihm antworten, er solle zuerst selbst das Zeichen des Antichrist von seiner Stirn wegwischen, und wenn er das thut, wird er Arbeit genug haben und keine Zeit mehr finden, nm sich mit den Dieben und Mördern zu beschäftigen! Na, wiederhole ihm das doch in seiner Sprache!«
    »Er ist sehr amüsant,« sagte der Engländer, als er diese Antwort hörte. Er lächelte wieder und verließ das Zimmer.
    Nechludoff war zurückgeblieben der Greis wendete sich an ihn und fuhr in seiner Rede fort:
    »Sorge du für dich und kümmere dich nicht um andere! Gott allein weiß zu strafen und zu belohnen; wir wissen gar nichts davon!«
    Dann aber rief er Nechludoff zu, als wenn er darauf verzichtete, ihn bekehren zu wollen:
    »Doch nein; ich habe dir nichts zu sagen! Geh', geh' deines Weges. Du hast jetzt zur Genüge gesehen, wie die Sklaven des Antichristen menschliche Geschöpfe den Läusen zum Fraße überlassen! Geh' jetzt und belustige dich anderswo!« Als Nechludoff seine Gefährten im Korridor eingeholt hatte, war der Engländer vor der halbgeöffneten Thür eines dunklen Zimmers stehen geblieben und fragte den Direktor, wozu dasselbe benutzt würde. Der Direktor erwiderte, das wäre der Ort, wo man die Toten abstelle.
    »So! Wirklich!« sagte der Engländer, als Nechludoff ihm diese Antwort übersetzt hatte; dann meinte er, es würde ihm angenehm sein, die Stube zu besichtigen.
    Der Direktor ließ eine Lampe bringen und führte die beiden Besucher in die Totenkammer. Es war ein großes, viereckiges Zimmer, das den andern ganz ähnlich sah. In einer Ecke lagen Säcke zusammengehäuft, in einer andern Ecke hatte man einen Kloben Holz aufgeschichtet; in der Mitte lagen auf einem Bette vier Leichen.
    Die erste dieser Leichen, die mit einem Hemd und einer Hose bekleidet war, hatte einen kleinen Spitzbart, und die Hälfte des Kopfes war rasiert. Die Starre war bereits eingetreten; die Hände, die augenscheinlich gefaltet auf der Brust gelegen, hatten sich gelöst, und ebenso waren die nackten Füße auseinander gezerrt. Neben ihr lag ein altes Weib in weißer Jacke und ebensolchem Rock, mit einer ganz kleinen Haarflechte, einem gelben, ganz runzligen Gesicht und einer Stumpfnase. Neben dieses alte Weib hatte man den Leichnam eines
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