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Auferstehung 4. Band (German Edition)

Auferstehung 4. Band (German Edition)

Titel: Auferstehung 4. Band (German Edition)
Autoren: Lew Tolstoi
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ihrer kahlen, neuerdings rasierten Schädel betroffen.
    Zwei von ihnen standen jedoch nicht auf. Der eine war ein ganz junger Mann mit rotem Gesicht, der vor Fieber zitterte; der andere, der älter war, stöhnte fortwährend.
    Der Engländer fragte, ob dieser junge Gefangene schon lange krank wäre. Er war es erst seit dem Morgen; doch der andere Gefangene litt schon seit längerer Zeit an einer Magenkrankheit, und man wartete nur darauf, daß ein Platz im Lazaret frei wurde, um ihn dahin zu schicken.
    Dann bat der Engländer Nechludoff, er möchte den Gefangenen einige Worte übersetzen, die er an sie richten wollte, und sofort teilte er ihnen mit, er reise durch Sibirien, um das Verschickungssystem zu studieren, auch hätte er es übernommen, das gute evangelische Wort unter den Verschickten zu verbreiten.
    »Ich möchte Ihnen sagen, daß Christus gestorben ist, um Sie zu retten. Sie sollen an ihn glauben, und Sie werden gerettet werden! hier ist das Buch, in dem das geschrieben steht!«
    Er bat Nechludoff, diese kleine Rede zu übersetzen; dann zog er ein Päckchen in verschiedene Farben gebundener Neuer Testamente aus der Tasche. Sogleich streckten sich eine Reihe grober Hände mit schwarzen Nägeln nach ihm aus, die sich gegenseitig zurückstießen. Er verteilte an sie einige Exemplare des kleinen Buches und ging hinaus, um sich in einen andern Saal zu begeben.
    In dem zweiten Saal spielte sich dieselbe Scene ab. Derselbe Mangel an frischer Luft, derselbe Gestank. Wie im ersten Saale hing ein Heiligenbild zwischen den Fenstern, gegenüber stand der Nachteimer. Wie im ersten Saal lagen sechzig Männer nebeneinander, die beim Eintritt der Besucher schnell aufsprangen. Doch diesmal konnten sich drei Mann nicht erheben; zwei richteten sich auf ihrem Lager auf; der dritte warf nicht einmal einen Blick auf die Fremden. Der Engländer bat Nechludoff, seine Rede zu wiederholen, und verteilte wieder einige Evangelien.
    In dem folgenden Saal befanden sich ebenfalls drei Kranke. Der Engländer fragte den Direktor, warum man die Kranken nicht in ein einziges Zimmer bringe. Doch der Direktor erwiderte, das wollten die Kranken selber nicht. Uebrigens wäre ihre Krankheit nicht ansteckend; auch besuchte sie der Lazarethgehilfe und behandelte sie sorgfältig.
    »Ja, seit zwei Wochen hat man keine Nasenspitze von ihm hier gesehen,« murmelte eine Stimme.
    Ohne etwas zu erwidern, ging der Direktor in einen andern Saal, und in diesem Saale, wie in dem folgenden und allen andern Sälen bot sich dasselbe Schauspiel den Besuchern, und dieselbe Scene fand statt, «Dasselbe Schauspiel und dieselbe Scene in den Zimmern der Verschickten, und in denen der zur Einschließung Verurteilten. Ueberall sahen Nechludoff und sein Gefährte dieselben hungrigen, unbeschäftigten, kranken, flachen, tückischen Menschen, die mehr Tieren als menschlichen Geschöpfen ähnlich sahen.
    Nach ungefähr einer halben Stunde verzichtete der Engländer, der übrigens seinen Vorrat an Evangelien erschöpft hatte, auf die weitere Uebersetzung seiner Ansprache von seiten Nechludoffs. Offenbar erstickte der Gräuel dessen, was er sah, und vor allem der entsetzliche Gestank seine ganze Energie. Er ging mechanisch von Zimmer zu Zimmer und begnügte sich, auf alle Auskünfte, die ihm der Direktor über die Zahl der Gefangenen und über die Art ihrer Strafen lieferte, mit: » All right! !« zu antworten.
    Nechludoff aber ging wie im Traum, ohne etwas zu sehen, ohne etwas zu hören, ohne die Kraft zu finden, fortzugehen oder zu bleiben, und in jeder Minute fühlte er sich verzweifelter und schamerfüllter. In einem der letzten Säle, die man besichtigte, hatte Nechludoff eine Begegnung, die ihn doch aus seinem Stumpfsinn aufrüttelte. Er sah dort unter den Verschickten denselben seltsamen kleinen alten Mann, der am Morgen auf der Fähre sein Nachbar gewesen war.
    Dieser kleine alte Mann, der ein zerfetztes Hemd und ein altes geflicktes Beinkleid trug, saß mit nackten Füßen in einer Ecke und warf den Besuchern einen strengen Blick zu. Sein runzliges Gesicht erschien noch düsterer und lebhafter als auf der Fähre. Und während alle Gefangenen des Saales sich beim Eintritt des Direktors mit einer einzigen Bewegung aufgerichtet hatten und aufgesprungen waren, blieb der kleine Greis sitzen. Seine Augen leuchteten, und seine Brauen zogen sich zornig zusammen. »Aufstehen!« rief ihm der Direktor zu.
    Doch der Greis zuckte die Achseln und lächelte verächtlich.
    »Deine
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