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Auferstehung 4. Band (German Edition)

Auferstehung 4. Band (German Edition)

Titel: Auferstehung 4. Band (German Edition)
Autoren: Lew Tolstoi
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aber lasterhaft waren, so konnten sie nur das Laster verbreiten, anstatt es zu bessern; da sie selbst verdorben waren, so verbreiteten sie ihre eigene Verderbtheit in ihrer Umgebung. Die Antwort, die Nechludoff ängstlich suchte, ohne sie zu finden, war dieselbe, die Jesus dem Petrus gegeben hatte; die Antwort lautete, man müsse immer verzeihen, nicht siebenmal, sondern siebenzigmal siebenmal.
    »Noch nein! So einfach kann die Sache nicht sein,« sagte sich Nechludoff, und doch wußte er mit absoluter Klarheit, daß es die einzige Antwort war, nicht allein vom theologischen, sondern auch vom praktischen Standpunkt. Die Sache erschien ihm, der er an entgegengesetzte Meinungen gewöhnt war, seltsam und unglaublich, doch er fühlte und wußte, daß sie unbestreitbar war.
    Der gewöhnliche Einwand, was man mit den Dieben und Mördern anfangen sollte, hatte schon seit langer Zeit keine Bedeutung mehr für ihn. Dieser Einwand hätte in der That nur dann Sinn gehabt, wenn die Strafen die Anzahl der Verbrechen vermindert, wenn sie die Verbrecher gebessert hatten; doch die Erfahrung hatte Nechludoff bewiesen, daß das Gegenteil eintrat. Hatten die Menschen seit den vielen Jahrhunderten, da sie das Verbrechen bestraften, dasselbe unterdrückt oder auch nur abgeschwächt? Weit entfernt, es zu unterdrücken oder auch nur abzuschwächen, hatten sie es nur noch stärker entwickelt, sowohl dadurch, daß sie die Gefangenen durch die Verurteilungen, denen sie sie aussetzten, zu Grunde richteten, wie auch dadurch, daß sie den Verbrechen dieser Gefangenen – den Verbrechen der Diebe und Mörder – ihre eigenen Verbrechen, die Verbrechen der Gerichtsräte, Staatsanwälte, Henker, Untersuchungsrichter, Polizisten und Aufseher zugesellten.
    Und Nechludoff begriff plötzlich, daß das notgedrungen so sein mußte. Er begriff, wenn die Gesellschaft und die sociale Ordnung weiter existierten, so geschah das nicht dank der Beamten und ihrer Grausamkeit, sondern im Gegenteil trotz ihnen, und weil es neben ihnen noch Menschen gab, die mit den andern Mitleid haben und sich gegenseitig liebten.
    Das Evangelium hatte endlich zu Nechludoffs Herzen gesprochen und sich ihm enthüllt, wie jedem Menschen, der es zu lesen geneigt ist, Nechludoff beschloß, noch ein paar Seiten zu lesen. Er nahm die Bergpredigt, die ihn jederzeit sehr gerührt hatte. Diesmal entdeckte er aber, als er sie las, daß diese Predigt nicht allein eine Sammlung edler Gedanken und rührender Bilder war, die ein kaum zu verwirklichendes moralisches Ideal begleiteten. Er bemerkte, daß die Bergpredigt nur vollständig klare, einfache, praktische und leicht anzuwendende Vorschriften enthielt, deren Befolgung die sofortige Schöpfung einer vollständig neuen menschlichen Gesellschaft zur Folge haben würde, aus der jede Gewaltthat und jede Ungerechtigkeit verbannt war, und die in dem der menschlichen Schwäche erlaubten Maße das Himmelreich auf Erden schuf.
    Diese Vorschriften waren fünf an der Zahl: Die erste bestand darin, daß der Mensch einen andern Menschen, seinen Bruder, nicht nur nicht töten, sondern sich auch, nicht gegen ihn erzürnen, ihn nicht anklagen, und nicht verachten durfte; wenn er sich aber mit einem andern Menschen gezankt, so mußte er sich mit ihm versöhnen, bevor er Gott ein Opfer darbrachte, das heißt, bevor er sich mit Gott durch das Gebet des Herzens vereinte.
    Die zweite Vorschrift bestand darin, daß der Mensch sich nicht nur nicht der Sinnlichkeit überlassen und die Schönheit des Weibes nicht entheiligen darf, indem er ein Werkzeug seines groben Vergnügens aus ihr macht; sondern er muß, wenn er sich mit einein Weibe vermählt, sich mit ihr auf immer als verbunden betrachten.
    Die dritte Vorschrift bestand darin, daß der Mensch nichts unter seinem Eide versprechen durfte, da er selbst weder Herr seiner selbst, noch irgend einer Sache ist.
    Die vierte Vorschrift bestand darin, daß der Mensch nicht nur nicht Auge um Auge, Zahn um Zahn fordern darf, sondern daß er, wenn man ihn auf die eine Wange geschlagen, die andere Wange hinhalten muß; daß er die Beleidigungen verzeihen, sie mit Ergebenheit ertragen muß und nichts verweigern darf, was die andern Menschen von ihm fordern.
    Die fünfte Vorschrift bestand darin, daß der Mensch nicht nur seine Feinde nicht hassen oder gegen sie kämpfen darf, sondern daß er sie lieben, ihnen helfen und dienen muß.
    Nechludoff streckte sich auf dem Divan aus und begann zu träumen. Er erinnerte sich an
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