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Auferstehung 2. Band (German Edition)

Auferstehung 2. Band (German Edition)

Titel: Auferstehung 2. Band (German Edition)
Autoren: Lew Tolstoi
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er empfand für Agrippina Petrowna und seinen Diener Kornej die freundschaftlichsten Gefühle, und es ergriff ihn ein lebhafter Wunsch, sich vor Kornej zu demütigen, wie er es eben vor der Wirtschafterin gethan; doch Kornej war von einer so platten Dienstbeflissenheit, daß Nechludoff nicht den Mut fühlte, sich vor ihm zu demütigen.
    Um sich in das Gerichtsgebäude zu begeben, wo er von neuem als Geschworener zu fungieren hatte, nahm er denselben Wagen, den er am vorigen Tage genommen, und der Kutscher fuhr ihn durch dieselben Straßen; dabei wunderte er sich über die ungeheure Veränderung, die sich während dieser vierundzwanzig Stunden in ihm vollzogen hatte, und bemerkte, daß er wirklich ein anderer Mensch geworden war.
    Seine Heirat mit Missy, die er am vorigen Tage so nahe geglaubt, erschien ihm jetzt vollständig unmöglich. Am vorigen Tage war er noch überzeugt, er würde das junge Mädchen glücklich machen, wenn er sie heiratete; doch jetzt hielt er sich nicht allein für unwürdig, sie zu heiraten, sondern auch, mit ihr zu verkehren.
    »Wenn sie wüßte, wer ich bin, so würde sie mich um keinen Preis der Welt weiter empfangen. Und ich trieb die Sorglosigkeit so weit, ihr ihre Koketterie mit Romanoff zum Vorwurf zu machen! Könnte ich selbst, wenn ich mich mit ihr verheiratet hätte, auch nur einen Augenblick glücklich oder ruhig sein, wenn ich wüßte, daß die andere, die Unglückliche, sich im Gefängnis befindet und morgen in einzelnen Tagemärschen zur Zwangsarbeit abgeführt wird, während ich hier mit meiner jungen Frau Glückwünsche entgegennehme und Hochzeitsbesuche empfange! Nein, das alles ist jetzt nicht mehr möglich,« sagte sich Nechludoff und freute sich über die Veränderung, die sich in ihm vollzogen hatte.
    »Vor allem,« sagte er sich dann, »muß ich den Advokaten aufsuchen und das Resultat seiner Bemühungen erfahren ... dann ... dann muß ich sie aufsuchen und ihr alles sagen.«
    Und jedesmal, wenn er sich in seinem Geiste vorstellte, wie er sie ansprechen, ihr alles sagen, das Geständnis seiner Schuld vor ihr ablegen und ihr erklären wollte, daß er allein alles gethan, dann wurde er gerührt über seine heroische Güte, und Thränen stiegen ihm in die Augen.
     
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    Im Korridor des Justizgebäudes begegnete Nechludoff dem Nuntius des Schwurgerichts. Er fragte ihn, wohin man die Verurteilten brächte und auch, an wen man sich wegen der Erlaubnis, mit ihnen zu sprechen, wenden müßte. Der Nuntius erwiderte, die Verurteilten würden nach verschiedenen Orten gebracht und nur der Staatsanwalt könne diese Erlaubnis geben.
    »Uebrigens,« fügte er hinzu, »werde ich Sie nach der Sitzung abholen und Sie selbst zum Staatsanwalt führen; jetzt aber bitte ich Sie, gehen Sie schnell in das Geschworenenzimmer, denn die Sitzung wird gleich beginnen.«
    Nechludoff dankte dem Nuntius und eilte nach dem Geschworenenzimmer. Als er eintrat, wollten die Geschworenen eben in den Sitzungssaal gehen. Der Kaufmann war, wie am vorigen Tage, in fröhlicher Laune, und man sah, daß er wieder tüchtig gegessen und getrunken hatte.
    Er empfing Nechludoff wie einen Freund, und selbst Peter Gerassimowitsch machte auf den jungen Mann nicht mehr den unangenehmen Eindruck, den er am vorigen Tage ihm gegenüber empfunden hatte.
    Nechludoff fragte sich, ob er den Geschworenen die Beziehungen mitteilen sollte, die er mit dem Weibe, das sie am vorigen Tage verurteilt, unterhalten hatte. »Schon gestern,« dachte er, »hätte ich im Augenblick, da das Urteil gefällt wurde, aufstehen und öffentlich meine Schuld bekennen müssen.« Als er dann aber in den Sitzungssaal trat und die Prozedur vom vorigen Tage wiederholt wurde – der Aufmarsch der Richter in der Amtsrobe, die tiefe Stille, der Aufruf der Geschworenen, die Gensdarmen, das alte Bild, der Priester – da hatte er das Gefühl, daß er mit dem besten Willen von der Welt am vorigen Tage nicht die Kraft gefunden hätte, eine so feierliche Ceremonie zu stören.
    Die Vorbereitungen des Urteils waren dieselben wie bei der letzten Sitzung, nur mit dem Unterschiede, daß man den Geschworenen nicht den Eid abnahm, und der Präsident ihnen seine kleine Ansprache ersparte.
    Der Fall, der an diesem Tage zur Verhandlung gelangte, war ein Einbruchsdiebstahl. Der Angeklagte war ein engbrüstiger, magerer, zwanzigjähriger Bursche mit gelbem Gesicht, der einen grauen Kittel trug. Er blieb auf der Anklagebank zwischen zwei Gensdarmen sitzen und hustete
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