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Auferstehung 2. Band (German Edition)

Auferstehung 2. Band (German Edition)

Titel: Auferstehung 2. Band (German Edition)
Autoren: Lew Tolstoi
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ununterbrochen. Dieser Bursche hatte mit seinem Kameraden die Thür einer Scheune aufgebrochen und sich eines Pakets Besen bemächtigt, die zusammen einen Wert von drei und einem halben Rubel hatten. Die Anklageakte erzählte, daß die Angeklagten gerade in dem Augenblick, als sie mit den Besen auf dem Rücken entfliehen wollten, von einem Polizisten verhaftet wurden. Beide hatten das umfassendste Geständnis abgelegt, und man hatte beide im Gefängnis behalten. Der eine war dort gestorben, und darum erschien nur der andere vor Gericht. Die Besen lagen als Beweisstücke auf dem Tische.
    Der Prozeß nahm denselben Verlauf wie der der Maslow, mit genau demselben Apparat von Verhören, Zeugen und Sachverständigen. Der Polizist, der den Angeklagten verhaftet, antwortete auf alle Fragen des Präsidenten, des Staatsanwalts und des Verteidigers: »Ganz recht,« oder »Ich weiß nicht«. Noch hinter diesen mechanischen Antworten und der Achtung vor der Disziplin merkte man, daß ihm der Angeklagte leid that und er auf seinen Fang nicht sehr stolz war.
    Ein zweiter Zeuge, ein Greis mit leidendem Gesicht, war der Besitzer des Hauses, in welchem der Diebstahl begangen worden. Als man ihn fragte, ob er seine Besen wiedererkenne, that er das in auffällig schlechter Laune, und als der Staatsanwalt ihn fragte, ob ihm die Besen sehr nötig gewesen wären, versetzte er ärgerlich: »Der Teufel hole diese verdammten Besen, sie haben gar keinen Wert für mich. Ich würde gern das Doppelte ihres Wertes geben, um nicht den Aerger und die Sorgen zu haben, die diese Sache mir bereitet hat. Ich habe ja allein in Droschken schon das Doppelte ausgegeben! Und dabei bin ich krank, seit sieben Jahren habe ich die Gicht!«
    So sprachen die Zeugen. Was den Angeklagten anbetraf, so gestand er alles, erzählte die Sache, wie sie vor sich gegangen war, sprach mit heiserer, unaufhörlich von Hustenanfällen unterbrochener Stimme und drehte wie ein in einer Schlinge gefangenes Tier mit blöden Blicken den Kopf nach allen Richtungen.
    Doch ebenso wie am vorigen Tage bemühte sich der Staatsanwalt, ihm spitzfindige Fragen vorzulegen, die seiner angeblichen Verschlagenheit die Spitze abbrechen und ihn überführen sollten.
    In seiner Rede behauptete er, der Diebstahl wäre mit Vorbedacht begangen, von Einbruch begleitet gewesen, und der Angeklagte müßte infolgedessen mit den strengsten Strafen belegt werden.
    Dagegen erklärte der vom Gericht eingesetzte Officialverteidiger, der Diebstahl wäre ohne Vorbedacht begangen, nicht vom Einbruch begleitet gewesen, und der Angeklagte wäre trotz seines ernsten Verbrechens nicht so gefährlich für die Gesellschaft, als der Staatsanwalt es hingestellt hatte.
    Schließlich erklärte der Präsident mit derselben Unparteilichkeit den Geschworenen wie am vorigen Tage, was sie von der Sache wissen müßten. Wie am vorigen Tage wurde die Sitzung aufgehoben, die Geschworenen rauchten Cigaretten, der Nuntius meldete: »Der Gerichtshof«, und wie am vorigen Tage bemühten sich die Gensdarmen, die den Angeklagten mit gezogenem Säbel bewachten, nicht einzuschlafen.
    Aus der Verhandlung ging hervor, daß der Angeklagte mit fünfzehn Jahren von seinem Vater in eine Tabakfabrik gebracht worden, wo er fünf Jahre geblieben war; im Monat Januar war er infolge eines Streites, der sich zwischen dem Direktor der Fabrik und den Arbeitern entsponnen hatte, entlassen worden. Nun hatte er keine Arbeit gehabt, war aufs Geratewohl in den Straßen herumgeirrt und hatte mit einem Schlossergesellen Bekanntschaft geschlossen, der ebenfalls seine Stelle verloren hatte und trank. In einer Nacht, als sie beide betrunken waren, hatten sie zusammen die Thür einer Scheune erbrochen und den ersten Gegenstand, der ihnen in die Hände gefallen war, daraus entwendet. Der Schlossergeselle war im Gefängnis gestorben, und jetzt wurde sein Komplize den Geschworenen als ein gefährliches Wesen vorgeführt, dem man die Möglichkeit nehmen mußte, der Gesellschaft weiter zu schaden.
    »Ein ebenso gefährliches Wesen, wie die Verurteilte von gestern,« dachte Nechludoff, als sich die Einzelheiten des Prozesses vor ihm entrollten. »Alle beide sind gefährliche Wesen! Zugegeben! Aber was sind wir, die wir über sie zu Gericht sitzen? Was bin ich zum Beispiel, ich, der Wüstling, der Lügner, der Betrüger? Sind wir denn nicht gefährlich? ... Und selbst angenommen, dieses unglückliche Kind wäre das einzige gefährliche Wesen, das sich in diesem Saal
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