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Auferstehung 2. Band (German Edition)

Auferstehung 2. Band (German Edition)

Titel: Auferstehung 2. Band (German Edition)
Autoren: Lew Tolstoi
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befindet, was sollen wir jetzt, da er sich hat fassen lassen, mit ihm anfangen? – Es ist klar, daß dieser Bursche kein Verbrecher von Beruf, kein außergewöhnlicher Missethäter ist, sondern im Gegenteil der gewöhnlichsten Art angehört. Das weiß und fühlt jeder, ebenso daß er das, was er ist, nur darum geworden ist, weil er sich unter Verhältnissen befunden hat, die ihn notgedrungen dazu bringen mußten. Ebenso klar ist es in den Augen eines jeden verständigen Menschen, daß wir, um solche Wesen an ihrem eigenen Verderben zu hindern, uns vor allem bemühen müssen, die Bedingungen zu zerstören, die die unmittelbare Wirkung haben, sie ihrem Verderben entgegenzuführen. Was thun wir aber? Wir packen aufs Geratewohl einen dieser armen Teufel, obwohl wir ganz genau wissen, daß tausend andere derselben Art in Freiheit bleiben, werfen sie ins Gefängnis, verdammen sie zu völliger Unthätigkeit oder zu einer ungesunden und blöden Arbeit in Gesellschaft anderer armer Teufel ihrer Art, und lassen sie dann auf Staatskosten von dem Gouvernement A... nach dem Gouvernement Irkutsk transportieren, und zwar diesmal in Begleitung der schlimmsten Verbrecher. – Um aber die Bedingungen zu zerstören, die solche Wesen hervorbringen, dazu thun wir nichts. Was sage ich? Wir thun alles, um sie zu entwickeln, indem wir die Fabriken, die Werkstätten, die Schenken, die Bordelle vermehren. Wir zerstören diese Bedingungen nicht nur nicht, sondern wir halten sie für notwendig, ermutigen sie und verleihen ihnen den Schutz des Gesetzes! So bilden wir nicht einen, sondern Tausende von Missethätern, und reden uns ein, wenn wir zufällig einen fassen, die Gesellschaft gerettet und unsere Pflicht gethan zu haben, wenn wir es durchsetzen, daß der arme Teufel vom Gouvernement A... nach dem Gouvernement Irkutsk überführt wird.«
    Das dachte Nechludoff, während er auf seinem Sessel mit der hohen Lehne neben dem Obmann der Geschworenen saß und auf die Stimmen des Staatsanwalts, des Verteidigers und des Präsidenten hörte.
    »Und wenn ich denke,« fuhr er, das blasse Gesicht des Angeklagten betrachtend, fort, »daß nur jemand, als sein Vater ihn unter dem Drucke der Not in die Stadt schickte oder später, als der Unglückliche mit seinen Kameraden in den Schenken ein bißchen Zerstreuung suchte, mit ihm Mitleid hätte zu haben brauchen! Hätte damals jemand mit ihm Mitleid gehabt und zu ihm gesagt: »Gehe nicht hin, Wanja, das ist nicht recht!« so wäre das Kind nicht hingegangen, wäre nicht verdorben und hätte nicht das Uebel angerichtet, das es eben angerichtet hat! – Doch während dieser ganzen Zeit, da er wie ein kleines Tier in seiner Fabrik gelebt hat, hat niemand mit ihm Mitleid gehabt. Im Gegenteil, ein jeder, Werkmeister und Kameraden, hat ihn in diesen fünf Jahren gelehrt, daß die Klugheit für einen Jungen seines Alters im Lügen, Trinken, Schimpfen, Prügeln und den Weibern Nachlaufen besteht. Wenn er dann von einer ungesunden Arbeit, dem Trunke und von der gemeinen Ausschweifung erschöpft und verdorben, ziellos durch die Straßen irrt und sich hinreißen läßt, in eine Scheune einzubrechen und einige alte, längst nicht mehr gebrauchte Besen daraus zu stehlen, dann versammeln wir reichen und gebildeten Leute, denen es an nichts fehlt, uns in einem feierlichen Saale und sitzen zu Gericht über diesen Unglücklichen, den wir selbst zu Grunde gerichtet haben!«
    So dachte Nechludoff, ohne auf das, was um ihn her vorging, weiter acht zu geben, und fragte sich, wie es nur kam, daß er und die andern das alles nicht schon früher bemerkt hatten.
     
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    Als die Geschworenen sich nach der Rede des Präsidenten in das Beratungszimmer zurückgezogen hatten, um die gestellten Fragen zu beantworten, trat Nechludoff, anstatt seinen Kollegen zu folgen, in den Korridor, da er plötzlich den Entschluß gefaßt, an den folgenden Verhandlungen nicht mehr teilzunehmen. »Mögen sie mit diesem Unglücklichen thun, was sie wollen,« sagte er sich, »ich kann mich nicht länger an einer solchen Komödie beteiligen!«
    Er bat einen Aufseher, ihm das Zimmer des Staatsanwalts zu zeigen und begab sich sofort dorthin. Der Thürsteher wollte ihn zuerst nicht einlassen und behauptete, der Staatsanwalt wäre beschäftigt; doch Nechludoff öffnete, ohne auf ihn zu hören, die Vorzimmerthür, wandte sich an den dortsitzenden Beamten und bat ihn, dem Staatsanwalt zu sagen, ein Geschworener wünsche ihn in einer sehr dringenden
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