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Auf fremdem Land - Roman

Auf fremdem Land - Roman

Titel: Auf fremdem Land - Roman
Autoren: Luchterhand
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Ich bedaure, Sie beim Purimfest stören zu müssen. Aber die Regierung des Staates Israel hat beschlossen, diesen illegalen Stützpunkt zu räumen. Die Zerstörungsbefehle wurden vor zehn Tagen hier ausgehängt und haben jedem die Möglichkeit gegeben, in aller Ruhe und ohne Konfrontationen abzuziehen. Heute Morgen haben wir Befehl erhalten, herzukommen und denen behilflich zu sein, die noch nicht geräumt haben. Ich bitte Sie, zu kooperieren und uns zu helfen, die Evakuierung ruhig und mit Würde durchzuführen. Sollten Sie sich dafür entscheiden, nicht zu kooperieren, werden wir entsprechend reagieren. Und ich sage es Ihnen jetzt, damit Sie nicht behaupten können, nichts gewusst zu haben – wir sind stärker, wir sind vorbereitet, und es wird uns gelingen. Danke.«
    Das Schweigen hielt noch einige Sekunden an. Und dann begann das Geschrei. Und das Spucken. Die Leute rannten in alle Richtungen. Das Trennlaken zwischen Frauen und Männern wurde heruntergerissen und zertrampelt. Panische Telefonanrufe. Tränen. Und wieso denn. Und warum gerade jetzt. Was für eine Gefühllosigkeit. Und was für eine hässliche Provokation. Und wieso fallen sie ausgerechnet über uns her, wo doch die Araber wie die Tobsüchtigen bauen.
    Der Hubschrauber stand am Himmel, beobachtete. Eine Planierraupe zog langsam ihre Bahn am Hang des Hügels, vorbei an der Spielplatzanlage, und näherte sich dem ersten Wohnwagen, der sich gerade rechts von ihr befand.
    »Moment, Moment, Moment mal, warum kann man denn nicht eine Sekunde reden?« Bei Chilik Jisraeli, mit dem Rouge auf den Wangen und der Wimperntusche, fiel der Groschen. Er stolperte auf Absätzen und im Brautkleid los, immer noch einen Blumenstrauß in der Hand, und versuchte, dem großen Bulldozer hinterherzurennen. Doch der Bulldozer hörte nicht zu. Neta-Tigerin und Rachel-Schneewittchen hielten sich die Hand vor den aufgerissenen Mund, konnten nicht glauben, was sie sahen, während der Schaufelteller der Planierraupe die Decke des Wohnwagens mit einem kreischenden, gellenden, herzzerreißenden Geräusch traf und das Dach zertrümmerte.
    »Was soll denn das??!!«, heulte die Tigerin auf, bis ins Mark getroffen. »Verweigert sofort den Befehl! Verbrecher!« Jehu-Königin-Ester galoppierte auf seinem Pferd Nikolaus-Killer los, versuchte einen Ausfall in der Flanke, um den Bulldozer von vorn zu erreichen, doch dieser ließ sich nicht stören. Hauptmann Omer stand mit verschränkten Armen da und beobachtete das Geschehen.
    »Hast du kein Herz? Ein verfluchter Haman bist du!«, schrie ihn eine Frau unter ihrer Verkleidung an. Nein, antwortete er sich selbst, ich habe kein Herz. Ich habe kein Mitleid. Ich hab’s satt. Für eine Sekunde kreuzte sich sein Blick mit dem des Fahrers der Planierraupe, und er befahl ihm mit einer knappen Handbewegung, mach weiter, weiter. Und der Bulldozer machte weiter, zerstörte den Wohnwagen mitsamt Inhalt. Es hörte sich an wie die gewaltigen Schmerzensächzer eines Elefanten.
    Der Häftling ergriff die Hand der Holländerin und zog sie gewaltsam mit, und sie, mit nachgebenden Knien, in völliger Verwirrung, ließ es geschehen. Ihr Vater war mit Versuchen beschäftigt, den Befehlshaber des Zentralkommandos zu erreichen, der die Operation vom Hubschrauber am Himmel aus leitete, und ihre Mutter konzentrierte sich darauf, Augenkontakt mit ihren kleinen Geschwistern zu bewahren. Sie folgte dem Häftling. Er gelangte zum Wachturm, stieg die Stufen hinauf und sie hinterher, ihre Hand immer noch in seiner. Oben am Turm drehte er sich um und nahm sie in die Arme, küsste sie auf die Lippen und sagte. »Ich bin verrückt, verrückt, verrückt geworden ohne dich.« Sie gab keine Antwort, erwiderte nur seinen Kuss, und mit einem dünnen Finger zeichnete sie eine Linie an seinem Hals nach. Er berührte mit ausgestreckter Hand ihre üppige holländische Brust. Sie erstarrte, hielt ihn nicht auf, konnte nicht. Sie war in einem Traum. Sie war gereinigt – am Morgen, in der Lehranstalt, war sie in die Mikve gegangen, hatte sich sogar auf Menstruationsblut hin untersucht, ohne besonderen Grund, wie sie dachte. Unten Geschrei, Aufruhr, angestrengter Motorenlärm, splitterndes Fiberglas, Tränengas, doch sie war ein üppiges holländisches Mädchen, das von einem Häftling auf einen hohen Turm entführt worden war. Sein kleiner Lockenkopf war zwischen ihren Brüsten, er schob ihren Büstenhalter weg, keuchend: »Ich bin verrückt, verrückt«, und sie hielt ihn nicht
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