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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht
Autoren: Hellmuth Karasek
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»Deutschlandlied« hieß, zum ersten Mal mit meinem Großvater 1938 in Brünn im Keller seiner Wohnung gesungen. Nach meiner Erinnerung gab es einen Fliegeralarm, wohl wegen der Sudetenkrise, rechne ich mir heute aus. Und mein Opa, wie ich ihn nannte, sah sich verschwörerisch wohlig um und sang mit mir das Deutschlandlied, die erste Strophe, versteht sich. Ob ich schon mitgesungen oder, wie ein Fußballspieler, nur die Lippen bewegt habe, weiß ich nicht mehr. Aber in der Erinnerung bin ich auf diesen Augenblick nicht mehr so stolz, wie ich es – was mein Großvater wohl erwartete – ein Leben lang bleiben sollte. Nein, mir ist dieser Moment wegen meines Opas, den ich sehr liebte, peinlich. Und ich glaube, dass das Absingen im Brünner Keller schuld an den folgenden Gräueln und Schrecken des Krieges war. Um Brecht zu variieren: »Glücklich das Land, das keine Notwendigkeit zum Absingen von Nationalhymnen findet.«
    Obwohl: Als ich in den frühen siebziger Jahren nach New York flog, um in der »Summer School« des Middlebury College in Vermont zu unterrichten, schienen die Amerikaner für mich gutmütige junge Riesen zu sein, ohne Arg, weil voller Zukunft. Ihre Herzen waren zu groß, um feinfühlig zu sein, ihre Gefühle äußerten sich wie mit Prankenschlägen. Sie hatten einen großporigen Geschmack.
    Und, sie sangen am Morgen, während ihre Stars-and-Stripes-Fahne am Mast hochgezogen wurde, ihre Nationalhymne, bei der sie auch noch die Rechte an ihr links schlagendes Herz drückten und voller unschuldiger Begeisterung zur Fahne hochblickten. Es war die Zeit, als auch in den USA (und dort zuerst) US-Fahnen wegen des Vietnam-Krieges verbrannt wurden, aber nicht in der Idylle von Vermont. Mich störte diese Zeremonie nicht. Im Gegenteil; ich beneidete die Amerikaner um diesen scheinbar ungebrochenen Gesang. Für mich war das ein Signal des sendungsbewussten Patriotismus, der sie in Sizilien und an der Normandie hatte landen lassen, um Europa als Europa zu erhalten. So sentimental das klingt, so empfand ich es auch. Obgleich mir die Studenten bald darauf Witze über die Nationalhymne erzählten. Zum Beispiel den über den komplizierten Text. Also: Während des Zweiten Weltkrieges habe man, wenn man den Verdacht hatte, dass es sich bei jemandem um einen japanischen Spion handeln könnte, den Verdächtigen die Nationalhymne vorsingen lassen. Konnte er sie von Anfang bis Ende auswendig, dann war er ein Spion.
    Die Summer School des College gliederte sich in mehrere, strikt getrennte Sprachschulen, eine russische, eine deutsche, eine französische, eine italienische, eine japanische, eine chinesische, eine spanische. Direktor der deutschen Schule war der Sorbonne-Professor Gerard Schneylin, dessen amerikanische Frau einen atemberaubend texanischen Akzent hatte. Sobald die Kurse eingeteilt waren, herrschte strikte Sprachentrennung zwischen den einzelnen Schulen, da alle Studenten sich ehrenwörtlich verpflichtet hatten, nur in ihrer Zielsprache (also deutsch oder russisch) miteinander zu sprechen. Dann fiel auch, schon aus Sprachgründen, die Nationalhymne weg, die ich nur erlebt hatte, weil ich verfrüht auf dem College angekommen war – noch ehe die Studenten in eine babylonische Sprachverwirrung eingeteilt und getrennt wurden.
    So kam es auch, dass ich bei einem, noch Sprachkurs-ungetrennten, abendlichen Volleyball-Spiel (bei dem alle noch »Fuck you!« fluchen durften, später in der deutschen Abteilung nur noch »Scheiße!« unter professoraler Anleitung) Judie Rachelson kennen lernte. Sie spielte, robust und braun gebrannt, unter den Sportriesen des jungen Amerika, ich feuerte sie an, und obwohl sie zur russischen Schule gehörte, trafen wir uns, heimlich englisch sprechend, an den Waschmaschinen im Keller, wo alle das Schleudern ihrer Wäsche und das Brummen der Trockner gemeinsam erleben durften. Und im Kino, oder wenn ich sie sonntags zum Essen einlud und wir mit dem Auto das College-Gebiet verließen.
    Sie war die Tochter eines Restaurantkettenbesitzers aus New York, der eine Reihe koscherer Steakhäuser betrieb, ihre Familie wohnte am Central Park West und stammte von russischen Anarchisten ab, die noch zur Zarenzeit emigriert waren. Judie hat mir im Verlauf unserer Freundschaft herrliche Fotos gezeigt, auf denen Picknick-Ausflüge ihrer Großeltern zu sehen waren. Sie hatten Schilder von ihren anarchistischen Vereinen bei sich, saßen aber idyllisch nach dem Motto »Hier können Familien Kaffe kochen«
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