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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht
Autoren: Hellmuth Karasek
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letzten Weihnachten, die ich dort verbrachte, wo ich glaubte zu Hause zu sein. Bielitz gehörte damals zu Großdeutschland und ich hatte seit 1940 dort Weihnachten erlebt. 1937 in Brünn, 1938 und 1939 in Wien. Bielitz gehört jetzt, seit 2004, zu dem gleichen Europa wie wir. Zu diesem Europa gehörte es zum letzten Mal zu Zeiten, als mein Großvater in den Krieg zog und 1918 mit nur einem Bein wiederkehrte.
    Ich war zehn Jahre alt und einige Tage zuvor von der Napola, die ich seit dem Herbst besuchte, für die Weihnachtsferien nach Hause gekommen. Es war schön, aus dem kalten Drill und Schliff der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt in das luxuriöse weiche Zuhause zurückfallen zu können. Dass ich im Januar wieder zurück müsste, verdrängte ich.
    Unsere Wohnung in Bielitz lag in der Dr.-Joseph-Goebbels-Straße, Hausnummer 42, direkt neben der Kreisleitung der NSDAP. Wir wohnten im zweiten Stock, hatten einen Balkon mit steinerner Brüstung, von dem man auf eine Parkallee blickte. Wir hatten viereinhalb Zimmer, neben dem Herrenzimmer und Esszimmer ein Kinderzimmer mit grünen Schleiflackmöbeln, ein Eltern-Schlafzimmer mit einer Psyche, auf der meine Mutter vor dem Spiegel Flacons mit Parfüm hatte, die man mit Gummibällen zum Sprühen brachte; der rote Gummiballon war mit Seide umhüllt, unten hing eine Quaste dran.
    Ich habe meine Mutter nicht einmal auf dem gepolsterten Hocker vor ihrer Psyche sitzen sehen.
    Die Wohnung hatte Etagenheizung, der Koksofen stand im Flur, nahe dem Eingang, das Haus hatte kleine Aufzüge, mit denen die Dienstboten den Koks in Schütten aus dem Keller hochziehen konnten. Im Flur stand auch ein Eiskasten. Einmal die Woche kam der Eismann und legte Eisstücke in das bleierne Fach über dem Kühlraum. Im Flur stand ein Einbauschrank, in den man oben die schmutzige Wäsche werfen konnte. Neben der Küche lagen die Speisekammer und das Dienstmädchenzimmer, das, soweit ich mich erinnere, kein Fenster hatte. An der Küche gab es einen kleinen Balkon, den ich immer mit schmutzigem Schnee vor Augen habe. Unser Dienstmädchen Soscha, eine siebzehnjährige Polin mit dickem schwarzem Zopf, klopfte hier mit dem Pracker die kleinen Teppiche aus. Die großen wurden in den Hof getragen und im Winter im Schnee neben der Teppichstange geklopft. Das gibt ihnen eine schöne Farbe, sagte meine Mutter, während sie mit Soscha auf die Teppiche im Schnee einschlug.
    Neben dem Schlafzimmer lag das Bad. Es war grün gekachelt, hatte eine eingelassene Badewanne, ein Bidet, das mich faszinierte, weil es nicht für mich bestimmt war, und einen Gasbadeofen, an dem immer ein Flämmchen brannte. Drehte man warmes Wasser auf, sprang die Heizung mit einem Fauchen an.
    Vor Weihnachten war die Wanne voll kalten Wassers und sechs oder sieben Karpfen schwammen darin herum. Mein Vater, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, übernahm die Pflicht, die Weihnachtskarpfen mit einem Hammer zu erschlagen. Ich sah ihm mit erschrockener Lust zu; eine weitere Mutprobe war es, am Abend die Augen der Karpfen zu essen. Eine Delikatesse, sagte mein Vater, wie das Fleisch hinter den Kiemen.
    Wir hatten im Ess- und Wohnzimmer sehr schöne furnierte Möbel, offenbar aus zweiter Hand. Im Herrenzimmer, das modern und nicht ganz im Geschmack meiner Eltern war, blätterten am seltsam runden Schreibtisch die Furniere ab. Auch das Radio war furniert, elegant gebogen und hatte ein magisches Auge, das mich giftig grün aus dem Dunklen ansprang. Auf der Skala standen so seltsame Namen wie Hilversum oder Königswusterhausen. Wir hatten luxuriöses Geschirr, kostbare Porzellanfiguren, Rokoko-Figuren, noch die Spitzenrüschen waren filigranfein und hauchzart gestaltet. Es war schön, aber es passte nicht zu uns.
    1939 hatten viele überhastet die Stadt verlassen, als die Deutschen einmarschierten. Zwar war Bielitz schon früher eine deutsche Tuchstadt gewesen, die Mehrheit der Bevölkerung war deutsch, aber nach 1918 war Österreichisch-Schlesien an Polen gefallen. 1939, nach Hitlers Blitzkrieg und Blitzsieg, gehörte es zum Gau Oberschlesien. Bielitz wurde Kreisstadt, nichts Besonderes. Nur dass im Kreis Bielitz Auschwitz lag.
    Blickte man von unserem Balkon nach links, Richtung Osten, dann sah man Kastanienbäume, die das Ufer eines Flusses säumten, der Bialka. Die Bialka hatte früher nicht nur Bielitz von der Stadt Biala getrennt, sondern auch Österreichisch-Schlesien von Galizien. Biala lag in Galizien, Bielitz in Schlesien. Die
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