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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht
Autoren: Hellmuth Karasek
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Bialka war ein kleines Flüsschen; an einer sandigen Bucht, von unserem Haus vielleicht hundert Meter entfernt, machte sie eine leichte Biegung und rauschte dann über ein kleines Wehr. Hier führte eine Brücke nach Biala.
    Ich habe unter der Brücke und in der Flussbiegung oft gespielt, Kaulquappen gefangen und grüne Blutegel, die wie kleine gekrümmte Trompeten aussahen. Man konnte sie zu Ärzten bringen, die sie ihren Patienten ansetzten.
    Auf der Biala-Seite stand das Haus, das mein Großvater einst gebaut und bewohnt hatte. 1928 hatten ihn die Polen, da er aus Brünn stammte, ausgewiesen und enteignet. So kommt es, dass meine Eltern in Bielitz, ich aber in Brünn geboren bin und dass sie mit der deutschen Armee wieder zurück nach Bielitz kamen. Im Herrenzimmer hing über einer Couch ein Bild.
    Es zeigte schwarz-weiß in schlichtem Rahmen den Reichsführer-SS Heinrich Himmler, mit Unterschrift.
    Ein paar Tage vor dem Heiligen Abend 1944 war ich alleine zu Hause, meine drei kleinen Geschwister schliefen schon, Soscha war in der Küche oder in ihrer Kammer. In der Stille knackten nur die Heizkörper. Ich ging ins Schlafzimmer meiner Eltern, zog die Schubladen der Kommode auf und fand, was ich suchte: meine Weihnachtsgeschenke. Vor Freude und Vorfreude konnte ich mich kaum halten, denn ich hatte etwas entdeckt, worauf ich gehofft, womit ich aber nie gerechnet hatte: eine Märklin-Eisenbahn, Schienen mit auf Blech gemaltem Schotter, einen Transformator, eine Lokomotive, Personenwaggons, Güterwaggons. Beseligt schob ich die Schublade wieder zu, ich glaube nicht, dass ich ein schlechtes Gewissen hatte. Ich freute mich wie noch nie auf Weihnachten, darauf, wie ich die Schienen zusammenstecken, den Zug über die Gleise rollen lassen würde. Ich würde die Weichen stellen, die Lokomotive würde mit ihren Scheinwerfern leuchten, ihre kleinen Kolben würden wie verrückt rattern. Und Jahr für Jahr würde die Bahn umfangreicher werden, Häuser würden dazu kommen, Brücken, Tunnels, Bahnhöfe. Was für eine Zukunft.
    Weihnachten 1944 war besonders kalt, weiß war es in den Beskiden ohnehin. Die Wohnung war warm, ich hatte zur Eisenbahn noch einen Metallbaukasten bekommen und Bausteine. Aber leider war mir sterbenselend, ich war das üppig fette Essen, die Weihnachtsgans, nicht gewohnt und habe mich über dem glatten, glänzenden Parkettboden übergeben. Meine Mutter steckte mich ins Bett und gab mir Tee.
    Ein paar Tage später hieß es, die Mutter müsse mit uns Kindern Bielitz verlassen. Vorübergehend. Die Russen hätten in einer Offensive die deutsche Front gebrochen und seien im Vorstoß auf das Kohle- und Industrierevier um Kattowitz. Mein Vater müsse an der Heimatfront bleiben.
    Wir packten ein paar Koffer, so viel, wie ich und meine Mutter gerade tragen konnten, und mein Vater fuhr uns zum Bahnhof, der von Schneestürmen umtobt war. Meine kleinen Geschwister, mein fünfjähriger Bruder Horst, meine vierjährige Schwester Ingrid und meine zweijährige Schwester Heidrun hielten wir an der Hand. Nach stundenlangem Warten auf dem Bahnsteig, der immer wieder von Schneeverwehungen freigeschaufelt werden musste, drängten wir uns in einen überfüllten Zug, der uns, »vorübergehend«, so beschwichtigte mein Vater meine Mutter, auf ein Gut in Niederschlesien bringen sollte. Ich erinnere mich an das erleichtert freudige Gefühl, das ich empfand, weil ich nach den Ferien nun doch nicht mehr in meine gehasste Schule mit ihrem Drill zurückkehren musste. Ich wusste noch nichts von den Wochen, in denen wir uns immer wieder in eisige Züge kämpfen und drängen, auf vereisten Straßen auf Lastwagen warten, in überfüllten Wartesälen oder Schulen auf dem Boden schlafen, in Gestank, Geschrei, unter Verzweifelten und dumpf Verstummten, im Dreck, in Angst und Panik, die Tage in Hunger und Kälte verbringen mussten. Es war der totale Zusammenbruch. Dass es eine Befreiung war, lernte ich erst Jahre später. Nur manchmal hätte ich gerne gewusst, wer später an Weihnachten von den Tellern gegessen hat, die wir zurückließen. Welche Bilder an den Wänden hingen. Und was aus der Märklin-Eisenbahn geworden ist, mit der ich nur zwei Tage gespielt hatte.
     
    In den ersten Nachkriegsjahren haben meine Eltern Bielitz in ihrer Erinnerung eingepanzert. So luxuriös wie Weihnachten 1944, wo wir zum letzten Mal von Tellern mit Goldrand aßen, haben meine Eltern nie wieder gelebt. Die nächste Märklin-Eisenbahn – es war exakt die
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