Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht
Autoren: Hellmuth Karasek
Vom Netzwerk:
blieb sie bei meinem kleinen Bruder? Und wurde ich am Abend von einer Bande von Dorfjungen gejagt, so dass ich erst einen schotterigen Hügelweg hinunterrannte, dann fiel und mir im Rutschen die Knie blutig stieß? Oder war das in der Mittagssonne? Und lauerten sie mir auf, als ich vom Kirchturm herunterkam, den ich bestiegen hatte bis zum Glockenturm, allein? Die Kirche stand auf einem Hügel über dem Ort, neben dem Schulsaal, in dem wir gesungen hatten. Und sie lauerten mir auf und schlugen mich nieder. Jedenfalls war ich allein, ein verlassenes Muttersöhnchen. Und als sie mich prügelten, rannte ich davon, hügelabwärts und fiel und schlidderte mit kurzen Hosen und nackten Knien durch den Schotter, die spitzen, scharfen Schottersteine. Die Hände und Knie bluteten. Wann immer es war, die Narben am Knie habe ich bis heute.
    In der Sommerfrische hatte niemand Sinn für meine Schmerzen, meine Angst, mein Weinen. Mein Vater war inzwischen gekommen, ich hatte sein Auto schon vor dem Gartenzaun stehen sehen.
    Meine Eltern, meine Großmutter saßen bedrückt da. Mein Großvater war gestorben. In Breslau, wo er alleine geblieben war, weil er arbeiten musste, während meine Großmutter bei uns zur Sommerfrische war. Bei uns und bei ihrer Tochter Lotte in Bielitz.
    Mein Großvater war, als er starb, einundsechzig. Er starb nicht allein. Eine Frau, eine Freundin war bei ihm. Er starb »dabei«, wie mein Vater später immer wieder sagte, wobei es ihm nicht gelang, entrüstet auszusehen, vielmehr schien mir durch seine Bedrückung so etwas wie Bewunderung, ja Neid zu schimmern: ein schöner Tod. »Kein schöner Tod«, sagte meine Mutter, aber nur wenn meine Großmutter nicht dabei war. »Die Frau«, sagte meine Mutter, »schrecklich. Wie sie das der Polizei erklären musste. Und die Nachbarn. Nein, kein schöner Tod!«
     

Ein Großvater mit einem Bein
     
    Ich hatte nur einen Großvater, den Vater meines Vaters. Den anderen, den Großvater »mütterlicherseits«, kannte ich nur aus den Erzählungen meiner Mutter, ebenso düsteren wie vagen Erinnerungen. Er sei Eisenbahner gewesen, verbittert, schwermütig, jahrelang habe er nicht mit seiner Frau Hedwig, der Mutter meiner Mutter, gesprochen. Weil Österreichisch-Schlesien, »unsre Heimat«, wie meine Mutter sagte, an Polen gefallen und er auf einmal bei der polnischen Bahn gewesen sei. Fühlte er sich zurückgesetzt? No ja, sagte meine Mutter, stell dir vor, er fuhr auf einmal durch Polen. Meine Großmutter habe er schlecht behandelt. Meine Großmutter habe ihn schlecht behandelt. Sie hätten getrennt voneinander in Zimmern gesessen und nicht miteinander gesprochen. Jahrelang. Dann sei er früh gestorben.
    Die Großmutter sei krank gewesen, apathisch, verschlossen, das, was man heute depressiv nennt, schwermütig. Das habe ich nur flüchtig gehört, wie heimlich beiseite gesprochen, von meinem Vater und seinen Brüdern. Meine Mutter hat immer gedacht, die »Karasek-Familie« verachte ihre Familie, die Familie der Buttingers. Wenn sie böse war, hat sie das auch mir vorgeworfen, obwohl es da schon längst absurd war: Alle waren sie Flüchtlinge, Habenichtse, alle hatten sie in der falschen Zeit den »Kopf nach oben« getragen.
    Nur ihre drei Brüder nicht. Norbert, der älteste, war nach 1918, als er zum polnischen Militär sollte, verschwunden, in Danzig untergetaucht. Meine Mutter hat versucht, nach 1939 mit ihm Kontakt in Danzig aufzunehmen. Vergeblich, er blieb verschollen. Roman, der zweite, »Rommie« genannt, war in Skawina, einem Kaff in Galizien, gewesen, Leiter einer Filiale von Franks Kaffee-Geschäft, wo man »Zichorie«, ein Kaffeegewürz für Malzkaffee, herstellte. Dort, in der trostlosen Einöde, hatte er Kinder in die Welt gesetzt, Hertha, meine Lieblingscousine Helga, Helmut, den Vetter, und dort hatte er angefangen, mit den anderen Angestellten der Kaffee-Firma zu trinken. Er war klein, leise, sehr kurzsichtig mit einer sehr dicken Brille und erzählte mit verzweifeltem Schmunzeln lustige Geschichten ohne Pointen, wobei er die Lippen asynchron heftig bewegte, vor jedem Wort, das er suchte, schien er aufgeregt zuzuschnappen. Er hatte sich erkennbar tapfer und verzweifelt lustig in einem verpfuschten Leben eingerichtet.
    Meine Cousine Helga hatte wunderbar helle Augen, blondes Haar und strahlte eine unwiderstehliche Freundlichkeit aus. Ein zartes Mädchen, zwei Jahre älter als ich, hat sie mich, eh ich ab 1942 in die Oberschule ging, nach dem Unterricht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher