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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht
Autoren: Hellmuth Karasek
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schon allein wegen Auschwitz. Das war ein Argument, das Henryk M. Broder auf das Schönste ad absurdum führte, indem er sagte: das könne Grass so passen, dass jetzt auch noch die Juden Schuld seien, wenn Deutschland sich nicht wiedervereinigen dürfe. Augstein hatte Recht – der Zug war abgefahren.
    Darüber also brauchten Gaus und ich beim »Italiener« in Berlin (das wahrscheinlich zu seinem heimlichen Kummer nicht mehr Westberlin war – aber auch dieser Zug war abgefahren) nicht mehr zu sprechen. Stattdessen betrieben wir beide Aufarbeitung unserer »Spiegel«-Vergangenheit, wir leckten unsere Wunden. Gaus, indem er mir erzählte, wie ihm Helmut Schmidt und dessen Eitelkeit sein Amt verleidet hätten, bis, ja bis er, Gaus, den Dienst quittiert habe. »Sollte ich Botschafter in London oder sonst wo werden, einfach so?!« Und da habe er darauf zurückgegriffen, dass er ja beim »Spiegel« eine Rückkehr-Klausel vereinbart hatte; damals, als er für Brandts neue Ostpolitik nach Ostberlin gegangen sei und die Freuden und Mühen gemeinsamer Jagdvergnügungen mit Erich Honecker auf sich geladen habe.
    Die aber ließen ihn nicht zurückkehren. Augstein und Böhme. Auch dieser Zug war abgefahren.
     
    Gullivers Reisen
     
    Beide Autoren waren fast sechzig, als sie ihre berühmtesten Romane schrieben, die, zu Recht und zu Unrecht, als Jugendliteratur gelten: Jonathan Swift schrieb »Gullivers Reisen« 1726, Daniel Defoe seinen »Robinson Crusoe« 1719. Beider Werke halten fest, wie England sich, in der Folge des Elisabethanischen Zeitalters, den Globus zu Eigen machte; es sind Bücher von Schiffsreisen, vom Aben teuer in fremder Welt, von Schiffbruch, vom Stran den, vom Notlanden in unbekannten Welten, die es zu entdecken, zu erforschen, zu beherrschen gilt. Jedes Kind in meiner Kindheit kannte, soweit es las, die beiden Bücher und malte sich in seiner Phantasie wie auf Swifts und Defoes Landkarten die innere wie die äußere Welt aus. Was sich mir damals einprägte, im Alter von acht bis achtzehn, waren Landkarten, von denen ich erst Jahrzehnte später wusste, dass sie eine innere wie eine äußere Welt markieren. Der schiffbrüchige Robinson Crusoe, der auf einer unbewohnten Insel landet, auf der er überleben muss, bringt den Kompass und die innere Ordnung seiner Herkunft mit; die Einöde formt und kultiviert er, als gehorche er dem Muster, mit dem das christliche Europa, mit dem England sich die Welt als Kolonialreich Untertan machte.
    Jeder Junge, der das Buch liest, macht sich im Laufe seiner Entwicklung auf eine ähnliche Reise. Was er von der Welt neu entdeckt, möchte er zu dem umformen, was er in den Formen und Skizzen seiner ihm eingeprägten Landkarte als Zivilisationsplan mitbringt; aus den Menschen, die ihm begegnen, versucht er seinen »Freitag« zu machen; die fremde, ungezügelte Natur versucht er so zu bändigen, dass sie der gezähmten Natur gleicht, von der er als Kind aufgebrochen ist zur Lebensreise.
    Swifts Gulliver ist ein eher skeptischer Reisender. Wenn er zu Zwergen und Riesen kommt, sieht er sich als Kind gegenüber riesigen Erwachsenen und als Erwachsener gegenüber Winzlingen in einem Spiegelbild, einem satirischen Zerrspiegelbild: Er ist sechsmal so groß wie die Liliputaner, die doch so tun, als wären sie die Größten und daher auch die Wichtigsten auf der Welt. Und die plumpen Riesen, die sich fein, zart, empfindsam, filigranhaft seelenvoll vorkommen, sind sechsmal so groß, haben sechsmal so plumpe Glieder, sechsmal so große Poren, sechsmal so schreckliche Ausdünstungen und Ausscheidungen. Kommt Gulliver nicht zu Riesen oder Zwergen, so landet er in der töricht verkopften Welt entrückter Gelehrter oder in einer vertierten Menschheit, in der edle Pferde den Schweinekoben-Menschen auf schreckliche Weise überlegen sind.
    Die Landkarten Swifts, seine kartografischen Ausmessungen der inneren Welt habe ich immer bei mir gehabt – oft auch dann, wenn ich es nicht wusste.
    Denn so viel ist klar, wenn ich zurückdenke: Immer war die Wirklichkeit vor mir kartografisch ausgebreitet; sie lag als Plan, als Karte vor, als hätte sie Merian nicht nur für den neuzeitlichen Menschen (dem Defoe und Swift den ersten Kompass, der eine affirmativ, der andere satirisch und kritisch, lieferten und das erste Kartenmaterial des Unbekannten), sondern auch für jedes Kind gezeichnet, das in die Längen- und Breitengrade der Welt hineinwuchs. In ihnen zu Hause sein musste.
    Die Landkarten meiner
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