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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht
Autoren: Hellmuth Karasek
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wohltuend empfand. Also waren wir »Liliput« und »Brobdingnag« in einem – schon für die Namenserfindungen konnte man als Kind Swift nur jauchzend ob der lautmalerischen Wahrheit bewundern. Wir waren Zwerge, die »groß« taten und uns unseren Stolz – ob BRD oder DDR – aus Fußballweltmeisterschaften oder Olympiaden holten, ein Sportmedaillen-Patriotismus, den wir heute, siehe das »Wunder von Bern«, nicht ohne nostalgische Rührung betrachten. Und wir waren gutmütige Wirtschaftsriesen, jedenfalls in der Bundesrepublik, die »Zahlmeister« Europas. Großspurig wurde angesichts großer Summen von »Peanuts« gesprochen, großkotzig davon, das meiste »aus der Portokasse« bezahlen zu können. – Bis, ja bis wir uns bei der Bezahlung der deutschen Einheit, beim Lösegeld für die abziehenden russischen Besatzungstruppen offenbar hoffnungslos überhoben haben. Jedenfalls, wie es sich nach und nach herausstellt.
    Für mich hatte dieser Goldmedaillen- und Fußballpokal-Patriotismus, jedenfalls rückblickend, etwas Schönes. Und ich erinnere mich an den Schock, als ich nach der Wiedervereinigung, wie jedes Jahr zur Buchmesse auf dem großen Frankfurter Hauptbahnhof ankommend, auf einmal statt amerikanischer Militärpolizei deutsche Feldjäger die Bahnsteige nach überfälligen, betrunkenen Soldaten absuchen sah. Jetzt gilt's, dachte ich und hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch. Oder, als ich in Berlin, bis dato die Zuflucht aller Wehrunwilligen Westdeutschlands, auf einmal Bundeswehrsoldaten sah. Jetzt gilt's! Ob wir diese Probe als souveräne Macht im Herzen Europas bestehen würden? Und ich war erleichtert, als ich sah, wie Kanzler Kohl das nationale Pathos, ja selbst die nationale Währung des »DM-Patriotismus« alsbald und fast kopfüber in den umfassenden Begriff »Europa« zu integrieren suchte.
    Aber es war ja schon schwierig genug, die DDR einzugemeinden. Wie sollten die Osteuropäer sich in einem geeinten Europa einrichten können?
    Während meiner Reisen zu Kongressen, Vorträgen und Festivals in Länder wie Polen, die Tschechoslowakei oder Ungarn zu Zeiten, als die DDR noch existierte, machte ich immer wieder die gleiche befremdliche Erfahrung. Während ich erwartete, ich würde vor allem mit dem »Revanchismus«-Vorwurf konfrontiert werden, schließlich veranstalteten Sudetendeutsche und Schlesier unter der wohlwollenden Billigung der Regierungen Heimattreffen (es ging ja auch da um Wähler), erlebte ich meist etwas ganz anderes: eine Verachtung für die Vertreter der DDR auf solchen Tagungen. Sie galten als die »Musterschüler« Moskaus. Und genau deshalb wurden sie verachtet, weil es ja die Sowjetunion war, die in all den »Ostblock-Staaten mit eiserner Faust alle nationalen Regungen unterdrückte. Ich wunderte mich, wie viel weniger gedrückt, unterwürfig, wie viel selbstbewusster auch die Kommunisten dieser Länder auftraten. Und wenn sie von ihren deutschen Parteifreunden sprachen, war ein verächtlicher Ton nicht zu überhören. Das galt besonders nach Brandts Warschau-Besuch. Und es galt in der Tschechoslowakei, bis zum Hass verstärkt, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings.
    Es war schon merkwürdig, wie man, sobald man Grenzen überschritt, einem Wechselbad eigener Gefühle ausgesetzt war. Ich weiß noch, wie viel leichter mir das Reisen nach Polen fiel, als Willy Brandt Kanzler war, dessen spontaner Kniefall in Warschau eine der großen historischen Gesten war, ähnlich wie Helmut Kohls Händedruck mit Mitterand auf den Schlachtfeldern von Verdun.
    Neben Landkarten braucht das vaterländische Gefühl – Hölderlins schönste, verrätselte Hymnen heißen »Vaterländische Gesänge«, obwohl sie von einer Heimat sprechen, die voll antiker Sehnsucht und napoleonischer Hoffnung ist – die Nationalhymnen, auch dann, wenn wie in der BRD die nationalen Grenzen und nationalistischen Gefühle in falschen Zeiten das Singen der ersten Strophe oder, wie bei der DDR-Hymne den Text von Johannes R. Becher eines Tages, wegen der Zweistaaten-Theorie, überhaupt verbieten. Für die meisten Deutschen aber haben diese Gesänge nur noch Platz bei WM- oder EM-Fußballspielen, wo sie die Spieler neugierig beobachten, ob sie den Text nicht mitsingen, weil sie ihn nicht beherrschen, oder weil sie sich trotzig dem Nationalpathos verweigern.
    »Die Hälse werden im Gebirge frei!«, schreibt Kafka, »es ist ein Wunder, dass wir nicht singen!« Ich habe die deutsche Nationalhymne, die damals das
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