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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick
Autoren: Jodi Picoult
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wie es aussieht, haben Sie eine leichte Gehirnerschütterung, sind aber schon wieder auf dem Weg der Besserung. Wahrscheinlich werden die älteren Erinnerungen vor den neueren wiederkommen. An die paar Minuten vor und nach dem Schlag werden Sie sich vielleicht nie erinnern.« Er sah Will an. »Und Sie sind …?«
    »Officer William Flying Horse, Los Angeles Police Department.«
    Der Arzt nickte. »Erklären Sie den Leuten, die sie abholen, daß sie die Nacht über beobachtet werden sollte. Sie sollen sie alle paar Stunden wecken und ihre Reaktion testen; Sie wissen schon, sie fragen, wer sie ist, wie sie sich fühlt und so weiter.«
    »Einen Moment«, sagte Jane. »Wie lange wird es dauern, bis ich mich erinnere, wer ich bin?«
    Der Arzt lächelte zum ersten Mal, seit er vor einer Stunde mit der Untersuchung begonnen hatte. »Das weiß ich nicht. Vielleicht ein paar Stunden; vielleicht ein paar Wochen. Aber bestimmt wartet Ihr Mann schon in der Stadt auf Sie.« Er schob den Stift zurück in die Jackentasche und tätschelte ihr die Schulter. »Er wird Sie im Nu über alle Einzelheiten aufklären.«
    Der Arzt öffnete die Tür des Untersuchungsraums und marschierte mit wehendem Kittel hinaus.
    »Mann?« fragte sie. Sie starrte auf ihre linke Hand und betrachtete den schlichten Reif mit den Diamanten, in denen sich das Neonlicht brach. »Wie konnte ich das bloß übersehen?«
    Will zuckte mit den Achseln. Ihm war der Ring genausowenig aufgefallen. »Können Sie sich an ihn erinnern?«
    Jane schloß die Augen und versuchte, ein Gesicht, eine Geste, vielleicht eine Stimme heraufzubeschwören. Sie schüttelte den Kopf. »Ich fühle mich nicht verheiratet.«
    Will lachte. »Nun, wahrscheinlich würde jede zweite Ehefrau in Amerika alles für so einen Schlag auf den Kopf geben.« Er ging zur Tür und hielt sie ihr auf. »Kommen Sie.«
    Den ganzen Weg zum Parkplatz spürte er sie einen Schritt hinter sich. Als sie am Pick-up angekommen waren, schloß er ihre Tür zuerst auf und half ihr beim Einsteigen. Er ließ den Motor anspringen und schnallte sich an, bevor er zu sprechen begann. »Also, wenn Ihr Mann Sie sucht, kann er Sie erst nach vierundzwanzig Stunden als vermißt melden. Wir können gleich auf die Wache fahren, wenn Sie das möchten, oder wir können morgen früh hinfahren.«
    Sie starrte ihn an. »Warum wollen Sie mich nicht zur Polizei bringen?«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Sie wollen sich davor drücken«, bemerkte Jane. »Das höre ich Ihnen an.«
    Will schaute starr geradeaus und legte den Rückwärtsgang ein. »Da haben Sie sich verhört.« Ein Muskel zuckte in seiner Wange. »Sie haben die Wahl.«
    Sie betrachtete sein Profil, eine gemeißelte Silhouette. Sie fragte sich, womit sie ihn so verärgert hatte. Zumindest im Augenblick war er ihr einziger Freund. »Ich glaube, ich sollte mich erst ein bißchen ausruhen«, meinte sie bedächtig, »vielleicht fällt mir ja alles wieder ein, wenn ich aufwache. Vielleicht sieht dann alles anders aus.«
    Will sah sie an, registrierte das Beben und die Hoffnung in ihrer Stimme. Obwohl er diese Frau überhaupt nicht kannte, obwohl sie ihn überhaupt nicht kannte, legte sie ihr Schicksal in seine Hand. So viel hatte man ihm noch nie anvertraut. »Vielleicht«, sagte er.
    Jane war wieder eingeschlafen, als sie das Haus in Reseda erreichten. Will trug sie durch die Wohnung ins Schlafzimmer, legte sie auf die unbezogene Matratze und deckte sie mit der einzigen Decke zu, die er bislang ausgepackt hatte. Er zog ihr die Schuhe aus, aber nicht mehr. Sie war die Frau eines anderen Mannes.
    In einem Kurs über Stammeskultur, den Will auf dem Oglala Community College hatte belegen müssen, um seinen Abschluß zu bekommen, hatte man Will erzählt, welche Strafe die Sioux in den Tagen des Büffels einer Ehebrecherin zugedacht hatten. Will war entsetzt gewesen: Wenn die Frau mit einem anderen Mann davongelaufen war, hatte der Gatte das Recht, ihr die Nasenspitze abzuschneiden und sie dadurch bis an ihr Lebensende zu zeichnen. Für Will schien das in krassem Widerspruch zu allem zu stehen, was er über die Sioux wußte. Schließlich war ihnen die Vorstellung, Land zu besitzen, unbegreiflich. Sie glaubten daran, Freunden im Unglück mit Geld, Essen und Kleidern zu helfen, selbst wenn das bedeutete, daß sie sich dadurch selbst in Armut stürzten. Und doch betrachteten sie eine Ehefrau als Besitz, den Ehemann als Besitzer.
    Er beobachtete die schlafende Jane. In gewisser Hinsicht
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