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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick
Autoren: Jodi Picoult
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Routinebefragung, die man ihm bei der Stammespolizei in South Dakota beigebracht hatte. »Können Sie sich daran erinnern, was Ihnen zugestoßen ist? Wie Sie hierhergekommen sind?«
    Die Frau senkte den Blick. »Ich kann mich an gar nichts erinnern«, sagte sie tonlos. »Wahrscheinlich sollte ich zur Polizei gehen.«
    Sie sagte das, als habe sie ein Kapitalverbrechen begangen. Will mußte lächeln. Er konnte sie in die Stadt zur Academy bringen, der Zentrale des Los Angeles Police Department. Selbst wenn sein Name noch nicht offiziell auf dem Dienstplan stand, konnte er bestimmt ein paar Fäden ziehen: die Vermißtenlisten durchgehen, nachsehen, ob tatsächlich jemand nach ihr suchte. Er rutschte auf seinem Sitz herum und verzog das Gesicht, weil Schmerz durch seine Schläfe schoß. Er mußte an den blonden Polizisten in Beverly Hills denken und fragte sich, ob sie am Montag wohl alle so wären.
    »Ich bin die Polizei«, sagte Will ruhig. Und noch während er die Worte aussprach, ahnte er, daß er diese Frau nicht zum Police Department bringen würde – nicht nach dem, was ihm vorhin passiert war, nicht gleich jedenfalls.
    Ihre Augen wurden schmal. »Haben Sie eine Marke?«
    Will schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich bin eben erst hergezogen. Ich wohne in Reseda. Ich fange morgen an.« Er fing ihren Blick auf. »Ich werde mich um Sie kümmern«, sagte er. »Vertrauen Sie mir?«
    Sie ließ den Blick über das scharf gezeichnete Gesicht und das schwarze Haar wandern, in dem das Licht spielte. Niemand sonst war gekommen. Doch als er aufgetaucht war, war sie ohne Zögern zu ihm gelaufen. Bei jemandem, der sich nicht auf seine Vernunft, sondern nur auf seinen Instinkt verlassen konnte, hatte das bestimmt etwas zu sagen. Sie nickte.
    Er streckte die Hand aus. »Ich bin William Flying Horse. Will.«
    Sie lächelte. »Jane Doe.« Sie legte die Fingerspitzen in seine Handfläche, und bei dieser Berührung öffnete sich ihm mit einem Schlag diese fremde Stadt. Will mußte an das Lied der Eule denken und an dieses Geschenk, das ihm im wahrsten Sinn des Wortes in den Schoß gefallen war. Und als er die Frau wieder anschaute, spürte er, daß sie von nun an irgendwie zu ihm gehörte.

2
     
    Oktober ließ sie jedesmal aus. Sie sollte die Monate in umgekehrter Reihenfolge aufsagen, so wollte es der Arzt in der Notaufnahme, aber sie sprang immer wieder von November zu September. Sie wurde rot und sah zu dem Mann auf, der sie untersuchte. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich versuche es noch mal.«
    Vom anderen Ende des Zimmers, wo er seit zehn Minuten zuschaute, kam Will aus seiner Ecke geschossen. »Himmel«, explodierte er. »Mir fehlt überhaupt nichts, und selbst ich würde dabei durcheinanderkommen.« Wütend funkelte er den Arzt an. Er hatte die Frau zur Notaufnahme gebracht, weil das der korrekten polizeilichen Vorgehensweise entsprach, wenigstens in South Dakota, aber jetzt kamen ihm Zweifel. Will kam es so vor, als machten sie diese dämlichen Übungen nur noch verrückter.
    »Sie hat in den vergangenen Stunden mindestens zweimal das Bewußtsein verloren«, erklärte der Arzt leidenschaftslos. Er hielt ihr einen Füller vor die Nase. »Was ist das?«
    Sie verdrehte die Augen. Sie war schon gefragt worden, wo sie sich befand, welcher Tag heute war, wie der Präsident hieß. Sie hatte in Dreierschritten vorwärts und rückwärts gezählt und eine kurze Liste von Obst- und Gemüsesorten auswendig gelernt. »Das ist ein Füller.«
    »Und das?«
    »Eine Füllerkappe.« Sie warf Will einen Blick zu und grinste. »Oder doch eine Kuh?« Als der Doktor sie mit großen Augen ansah, lachte sie. »Das war ein Witz«, beschwichtigte sie ihn. »Nur ein kleiner Witz.«
    »Sehen Sie?« sagte Will. »Sie kann Witze machen. Es geht ihr gut.« Er verschränkte die Arme. Er fühlte sich nicht wohl. Krankenhäuser machten ihn nervös, seit er neun Jahre alt gewesen und sein Vater in einem gestorben war. Drei Tage nach dem Autounfall, seine Mutter war schon begraben, hatte Will mit seinem Großvater im Krankenhaus gesessen und darauf gewartet, daß sein Vater wieder zu sich kam. Stundenlang hatte er auf die schlaffe braune Hand seines Vaters gestarrt, die sich scharf gegen das weiße Laken, das weiße Licht und die weißen Wände abhob. Und er hatte gewußt, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis sein Vater sich zu jenem Ort aufmachen würde, wo er hingehörte.
    »Also gut.« Der Tonfall des Arztes ließ Jane wie auch Will aufhorchen. »So
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