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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick
Autoren: Jodi Picoult
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Mutter an. Er lernte wie besessen, um später aufs College gehen zu können. Er sprach ausschließlich Englisch, selbst bei seinen Großeltern, die beide Lakota sprachen. Er nickte, wenn seine weißen Bosse die Sioux als faule Säufer bezeichneten, und wenn es ihn bei solchen Bemerkungen eiskalt überlief, dann hüllte er sich in seine Gleichgültigkeit wie in einen Mantel.
    Jetzt war er also weiß. Er war nicht mehr im Reservat, er hatte nicht vor, dorthin zurückzukehren, und um aus Beverly Hills herauszufinden, würde er das gleiche tun wie jeder andere Weiße: Er würde an einer Tankstelle halten und sich den Weg erklären lassen.
    Will legte den Gang ein, steuerte den Pick-up wieder auf die Straße und fuhr weiter. Er staunte über den Reichtum in Beverly Hills - die schmiedeeisernen Tore und die rosa Marmorbrunnen, die blinkenden Lichter in den großen venezianischen Fenstern. In einem der Häuser fand eine Party statt. Will fuhr langsamer, um dem lautlosen Ballett der Kellner und Gäste zuzuschauen. Erst nach einer Weile bemerkte er die kreisenden Lichter des Streifenwagens, der hinter ihm angehalten hatte.
    Kollegen, dachte er und stieg aus dem Pick-up, um nach dem Weg zu fragen. Es waren zwei Beamte. Einer war blond - mehr konnte Will nicht feststellen, bevor der Mann Wills Kopf gegen die Kabine des Pritschenwagens rammte und ihm den Arm auf den Rücken zog.
    »Schau mal einer an, Joe«, sagte er. »Schon wieder so ein verdammter Scheißlatino.«
    »Moment mal«, hörte Will sich krächzen, und schon schlug ihm der Polizist mit der freien Hand zwischen die Schulterblätter.
    »Nicht frech werden, Pedro«, drohte er. »Wir beobachten dich schon seit zehn Minuten. Was hast du in so einer Gegend zu suchen?«
    »Ich bin ein Cop.« Wills Worte fielen schwer auf den Straßenbelag.
    Der Mann ließ sein Handgelenk los. Will stemmte sich vom Wagen weg und drehte sich um. »Zeig uns deine Marke.«
    Will schluckte und sah ihm ins Gesicht. »Ich habe noch keine. Ich habe auch noch keinen Ausweis. Ich bin eben erst angekommen; ich fange morgen an.«
    Der Beamte kniff die Augen zusammen. »Also, wenn ich keine Marke sehe, sehe ich auch keinen Cop.« Er nickte seinem Partner zu, der langsam zum Streifenwagen zurückging. »Und jetzt mach, daß du wegkommst.«
    Will ballte und löste die Fäuste, während er den Rücken des Polizisten mit Blicken durchbohrte. »Ich bin einer von euch«, brüllte er und sah den Beamten hinter der dicken Windschutzscheibe des Streifenwagens lachen. Bevor er in den Wagen stieg, warf er einen letzten Blick auf die Leute auf der Party, die lachten und tranken, als wäre überhaupt nichts passiert.
    Der Mond glitt hinter eine Wolke, als würde er sich schämen, und in diesem Moment erkannte Will zwei Dinge: Er konnte L. A. nicht leiden. Und er war kein Weißer.
    Als sie aufwachte, war die Sonne untergegangen. Sie setzte sich auf und lehnte sich an den vertrauten Grabstein. Irgendwo im Osten bohrte sich ein Scheinwerferstrahl in den Himmel, und sie fragte sich, ob heute abend eine Preisverleihung stattfand - in L. A. gab es am laufenden Band welche.
    Sie zog sich hoch und ging langsam auf das Tor zu. Bei jedem Schritt sagte sie sich einen anderen Frauennamen vor, in der Hoffnung, daß ihr Gedächtnis auf einen anspringen würde. »Alice«, sagte sie. »Barbara. Cicely.« Sie war bei Marta angelangt, als sie auf die Straße trat - den Sunset Boulevard, wie sie augenblicklich erkannte, und sie begriff, daß sie Fortschritte machte, denn das war ihr vorhin nicht eingefallen. Sie setzte sich an den Bordstein, unter das Schild, auf dem der Name des Priesters von St. Sebastian und die Messezeiten und Beichtgelegenheiten standen.
    Sie wußte, daß sie nicht zur Gemeinde gehörte, daß sie nicht einmal katholisch war, aber sie hatte das Gefühl, daß sie hier schon gewesen war. Um genau zu sein, sie hatte das Gefühl, daß sie sich hier versteckt oder Zuflucht gesucht hatte. Wovor war sie wohl weggelaufen?
    Achselzuckend gab sie den Gedanken auf und schaute in die Ferne. Auf der anderen Straßenseite warb am Ende des Blocks eine Reklametafel für einen Kinofilm. »Tabu«, las sie laut. Sie fragte sich, ob sie den Film gesehen hatte, weil ihr der Titel so vertraut vorkam. Die Tafel zeigte einen Mann in tiefem Schatten, aber trotzdem war leicht zu erkennen, daß es sich um Alex Rivers handelte, Amerikas Liebling. Die Liste seiner Erfolge reichte vom Actionthriller bis zur Shakespeareverfilmung, und ihr fiel
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