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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick
Autoren: Jodi Picoult
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Klaustrophobie. Der zischende Asphalt unter seinen Reifen und die viel zu dicht gedrängten Apartmentblocks ließen ihm keine Luft zum Atmen. Deshalb fuhr er immer weiter nach Westen, um den Ozean zu finden, und das möglichst noch vor Einbruch der Dämmerung. Er hatte ihn noch nie gesehen. Er kannte ihn nur von Bildern und von den Erzählungen seiner Mutter und seines Vaters.
    Ihm fielen Geschichten ein, die ihm sein Vater erzählt hatte und die er damals nicht geglaubt hatte: von Indianern im letzten Jahrhundert, die man eingesperrt hatte und die über Nacht gestorben waren, weil sie die Enge nicht ertrugen.
    Ihm fielen die Statistiken des Büros für Indianische Angelegenheiten ein, denen zufolge Sechsundsechzig Prozent aller Indianer, die ihr Reservat verließen, zurückkehrten, weil sie nicht in der Stadt leben konnten. Natürlich war er kein richtiger Sioux. Aber er war auch kein richtiger Weißer.
    Er roch ihn, bevor er ihn sah. Der Wind trug ihm den Salzwassergeruch zu. Er parkte den rostigen, gebrauchten Pick-up am Straßenrand und rannte die Dünen hinunter. Er hörte erst auf zu laufen, als seine Turnschuhe unter Wasser waren und die Gischt seine Jeans wie mit Tränen befleckte.
    Eine Möwe kreischte.
    William Flying Horse stand mit ausgebreiteten Armen im Wasser, die Augen fest auf den Pazifik gerichtet, aber was er sah, waren die gestreiften Ebenen und sanften Hügel Dakotas, die ihm nie eine Heimat gewesen waren.
    Im Pine-Ridge-Reservat in South Dakota nahm man die Route 18, wenn man in den Ort fuhr, und wenn man irgendwo anders hinwollte, orientierte man sich an natürlichen Wahrzeichen oder an verrosteten Autoskeletten, da es sonst kaum Straßen gab. Aber Will war erst seit drei Tagen in Los Angeles und mußte sich noch zurechtfinden.
    Er hatte ein kleines Reihenhaus in Reseda gemietet, nah genug am Los Angeles Police Department, um nicht lang pendeln zu müssen, und weit genug, um nicht das Gefühl zu haben, an seinen Job gefesselt zu sein. Er brauchte erst morgen anzufangen - den Papierkram hatte er brieflich erledigt -, und er hatte vorgehabt, die freie Zeit zu nutzen, um L. A. kennenzulernen.
    Will schlug mit der Faust auf das Lenkrad. Wo zum Teufel war er? Er tastete unter dem Vordersitz nach der Karte, die er vor ein paar Minuten auf den Boden gefegt hatte. Er kniff die Augen zusammen, um die winzigen roten Sträßchen zu erkennen, aber die Innenbeleuchtung im Pick-up war mit als erstes ausgefallen, deshalb lenkte er den Wagen unter eine Straßenlaterne und hielt an. Im Halbdunkel stierte er auf die Karte. »Scheiße«, sagte er. »Beverly Hills. Hier war ich vor einer Stunde.«
    Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wünschte er sich, er hätte mehr indianisches Blut.
    Er gab seinem wasicun-Erbe die Schuld an seinem mangelhaften Orientierungssinn. Sein Leben lang hatte man ihm Geschichten vom Vater seines Großvaters erzählt, der die gottverdammten Büffel schon bei der leisesten Brise riechen konnte. Und als die Frau, die sein Vater liebte, ihn ohne ein Wort verlassen hatte, wat er da nicht meilenweit geritten, allein von seiner Eingebung geleitet, bis er sie gefunden hatte? Verglichen damit konnte es doch nicht so schwer sein, den San Diego Freeway zu finden!
    Einmal, als Will noch ein Kind gewesen war, war er seiner Großmutter in die Wälder gefolgt, um Wurzeln und Blätter für ihre Medizin zu sammeln. Er hatte die Pflanzen gepflückt, auf die sie deutete, Zeder und Kalmus und wildes Süßholz. Er hatte ihr nur kurz den Rücken zugedreht, da war seine Großmutter verschwunden. Eine Weile war er im Kreis gelaufen, hatte versucht, sich ins Gedächtnis zu rufen, was ihm sein Vater über Fußspuren auf trockenem Laub, geknickte Zweige und dem Gespür für winzige Regungen in der schweren Luft erzählt hatte. Nach Stunden hatte seine Großmutter ihn gefunden; frierend kauerte er unter einer knorrigen Eiche. Wortlos hatte sie ihn an der Hand genommen und heimgezogen. In Sichtweite der kleinen Holzhütte war sie stehengeblieben und hatte Will am Kinn gepackt. »Du«, hatte sie geseufzt. »So weiß.«
    Er war erst zehn gewesen, aber von diesem Augenblick an hatte er begriffen, daß er nie wie seine Großeltern sein würde. Für sie und für alle anderen würde er immer ein iyeska, ein Mischblut, bleiben. Die nächsten fünfundzwanzig Jahre hatte er sich so weiß wie nur möglich benommen. Wenn er nicht zum Volk seines Vaters gehören konnte, hatte er sich überlegt, dann schloß er sich eben dem seiner
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