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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick
Autoren: Jodi Picoult
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zerrte Will an seinem Uniformkragen. Das verdammte Hemd erwürgte ihn noch. Er würde es keine Woche lang tragen können. Als er in seine Straße einbog, fragte er sich, ob Jane eingefallen war, wie sie hieß. Er fragte sich, ob sie immer noch da war.
    Sie empfing ihn an der Tür in einem seiner weißen Sonntagshemden, das sie an der Taille zusammengeknotet hatte, und in seinen Joggingshorts. »Und - sucht jemand nach mir?« fragte sie.
    Will schüttelte den Kopf, trat ins Haus und blieb wie erstarrt stehen. Er überblickte die ordentlich aufgestapelten, leeren Kisten und die Zeugnisse seiner Herkunft, die für jeden deutlich sichtbar an den Wänden hingen.
    Der Zorn kam so schnell, daß er ihn nicht mehr verbergen konnte. »Wer zum Teufel hat Ihnen erlaubt, in meinen Sachen zu wühlen?« brüllte er und stampfte über den Teppich in die Wohnzimmermitte. Er wirbelte herum, um Jane mit seinem Blick festzunageln - und sah sie dicht an die Wand gekauert und die Hände über den Kopf erhoben, als müsse sie einen Schlag abwehren.
    Sein Zorn war wie weggeblasen. Er blieb ruhig stehen und wartete, bis er wieder klar sehen konnte. Er sagte kein Wort.
    Jane senkte die Arme und stand steif auf, aber sie schaute Will nicht in die Augen. »Ich wollte Ihnen für alles danken, und so schien es mir am besten.« Ihre Augen wanderten über die Wand, wo der kleine Lederbeutel neben der gemalten Jagdszene hing. »Ich könnte ja alles umhängen, wenn Sie die Sachen lieber anderswo haben wollen.«
    »Ich will sie nirgendwo haben«, knurrte Will und nahm die Mokassins vom Kaminsims. Er zog einen leeren Karton heran und begann, die Sachen hineinzuschleudern.
    Jane kniete sich neben die Kiste und versuchte, die zerbrechlichen Stücke so zu stapeln, daß sie nicht zerdrückt wurden. Sie mußte vorsichtig sein; sie mußte es richtig machen. Sie strich mit den Fingern über die Federn des kleinen Lederbeutels. »Was ist das?«
    Will warf kaum einen Blick auf das Ding in ihrer Hand. »Ein Medizinbündel«, sagte er. »Was ist darin?«
    Will zuckte mit den Achseln. »Die einzigen, die das wissen, sind mein Ururgroßvater und sein Schamane, und die sind beide tot.«
    »Es ist schön«, sagte Jane.
    »Es ist nutzlos«, schoß Will zurück. »Es soll den Träger beschützen, aber mein Ururgroßvater wurde von einem Büffel aufgespießt.« Er drehte sich um, sah, wie Janes Finger das Bündel betasteten, und seine Miene entspannte sich, als sie zu ihm aufschaute. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich wollte nicht so explodieren. Ich will bloß nicht, daß dieses Zeug hier an der Wand hängt, wo ich es ständig sehen muß.«
    »Ich dachte, es würde Ihnen gefallen, etwas zu haben, was Sie an Ihre Herkunft erinnert«, erklärte Jane.
    Will ließ sich auf den Boden sinken. »Genau davor bin ich weggelaufen«, gestand er. Er seufzte, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und versuchte das Thema zu wechseln. »Wie geht es Ihnen?«
    Sie blinzelte, weil ihr erst jetzt auffiel, daß er ein blaues Polizeihemd mit dem Abzeichen am Oberarm trug. »Sie tragen eine Uniform«, platzte sie heraus.
    Will schmunzelte. »Was haben Sie denn erwartet - Federschmuck?«
    Jane stand auf und reichte Will die Hand, um ihn hochzuziehen. »Mir ist wieder eingefallen, wie man kocht«, sagte sie. »Möchten Sie was essen?«
    Es gab Brathähnchen, Bohnen und Ofenkartoffeln. Will trug das Tablett ins Wohnzimmer, wo er es auf dem Boden abstellte, wählte für jeden ein Bruststück und legte das Fleisch auf zwei Teller. Er erzählte ihr von seinem ersten Arbeitstag, und sie erzählte ihm, wie sie sich auf dem Weg zum Supermarkt verlaufen hatte. Die Sonne blutete durch die Fenster und umriß ihre schwarzen Silhouetten, während sich ein entspanntes Schweigen breitmachte.
    Will pickte mit den Fingern in den Hähnchenresten und nagte die Fleischreste von den Knochen. Plötzlich spürte er Janes Hand auf seiner. »Warten Sie, ich will ziehen«, sagte sie mit glänzenden Augen, und er merkte, daß er das Gabelbein in der Hand hielt.
    Er zog, und sie zog. Immer wieder rutschten ihnen die weißen Knochen durch die fettigen Finger, bis er schließlich das größere Stück in der Hand hielt. Enttäuscht lehnte sich Jane an ein paar aufgestapelte Kisten. »Was haben Sie sich gewünscht?«
    Er hatte sich ihr Gedächtnis zurückgewünscht, aber das verriet er ihr nicht. »Wenn man es verrät, erfüllt es sich nicht«, sagte er zu seiner Überraschung. Er lächelte Jane an. »Das hat meine Mutter
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