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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick
Autoren: Jodi Picoult
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Begleitbrief zu verfassen, faltete sie ihre Notizen zusammen. Sie war nicht die Richtige für eine solche Analyse; nicht mehr. Deshalb schrieb sie nur kurz, daß sie keine Zeit gefunden habe, das Exemplar genauer zu studieren, und daß es ihr leid tue, monatelang nicht geantwortet zu haben. Dann steckte sie die Nachricht zu dem Schädel und versiegelte die Kiste mit einem Tacker.
    Cassie trug den Schädel zurück ins Haus, um ihn zu der abzuschickenden Post zu geben. Bei jedem müden Schritt wog die Last in ihren Armen schwerer. Sie begriff nicht, warum sie so lange gebraucht hatte, um zu verstehen, daß ein Skelett einem gar nichts verriet, daß eine Überlebende einem dagegen ihr Leben zeigen konnte.
    »Was ist mit Ihrem Lehrauftrag an der Universität?«
    »Werden Sie in L. A. bleiben?«
    »Haben Sie irgendwelche Pläne?«
    Cassie blinzelte angesichts der sprudelnden Fragen. Selbst wenn sie genau gewußt hätte, wohin sie gehen sollte, würde sie das bestimmt nicht ausgerechnet der Presse verraten.
    »Was meine Arbeit betrifft, so bin ich im Mutterschaftsurlaub«, antwortete sie langsam. »Und die Entscheidung, ob ich danach an die Uni zurückgehe oder nicht, werde ich erst später treffen.«
    Ein Mann in olivfarbenem Trenchcoat schob sich den Hut aus der Stirn. »Werden Sie in einem Ihrer anderen Wohnsitze bleiben?«
    Cassie schüttelte den Kopf. Selbst wenn sie jene Hälfte von Alex’ Reichtümern und Besitz gewollt hätte, auf die sie laut kalifornischem Recht Anspruch hatte, würde sie nirgendwo bleiben, wo sie mit ihm zusammengewesen war. Auf der Ranch, im Apartment, wahrscheinlich sogar in Tansania war jedes Stück und jeder Blick mit Erinnerungen an ihr gemeinsames Leben behaftet. Sie zögerte und biß sich auf die Unterlippe. »Ich habe verschiedene Optionen«, log sie.
    Sie hatte Connor zu Ophelia gebracht. »Lieber Himmel«, entfuhr es Ophelia, als sie die Tür aufmachte. »Was zum Teufel ist denn mit dir passiert?«
    Cassie hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich zu kämmen oder zu schminken. Sie hatte sich das erstbeste angezogen, was ihr in die Finger gekommen war; als sie jetzt an sich herabsah, erblickte sie ein lila Polohemd über grünweiß gestreiften Baumwollshorts. »Ophelia«, sagte sie nur, »du mußt mir helfen.«
    Während sie Ophelia durch die dunklen Winkel der letzten drei Jahre mit Alex führte und während der halben Stunde, in der sie ihr die Blutergüsse zeigte, die unter ihrem Büstenhalter anschwollen, weinte Cassie kein einziges Mal. Mit ihrem linken Fuß wiegte sie Connor in seiner Wiege, während sie Ophelias Fragen beantwortete. Schließlich hatte Ophelia für sie geweint und den Freund einer Freundin angerufen, der Verbindung zu einer ehrgeizigen, aufstrebenden Anwältin hatte. Als Cassie sie daran hindern wollte, sah Ophelia sie eindringlich an. »Vielleicht willst du tatsächlich keinen Cent von ihm«, sagte sie. »Aber du hast etwas, was Alex unbedingt will. Seinen Sohn.«
    Ophelia war es auch, die zu den fünf Banken ging, wo Alex und Cassie gemeinsame Konten hatten, und mit Cassies Automatenkarte jeweils eine großzügige Summe abhob. Sie kaufte Windeln und Fläschchen für Connor, weil Cassie von beidem nicht genug mitgenommen hatte.
    Während Ophelia unterwegs war, wiegte Cassie Connor in den Schlaf und legte ihn in das Bett, das vor vier Jahren ihr eigenes gewesen war. Dann ging sie ins Wohnzimmer und zog die Jalousien herunter, als würde man sie schon jetzt von draußen anstarren. Sie ging ans Telefon und wählte die Nummer des öffentlichen Anschlusses im Futter- und Getreidegeschäft in Pine Ridge, dem Geschäft, das Horace führte, dem Geschäft, von dem aus sie vor über einem Monat Alex angerufen hatte.
    »Cassie!« sagte Horace, und im Hintergrund hörte sie das Schlurfen und Schnaufen alter Lakota-Männer, die sich über die Fässer mit Haferflocken beugten. Sie hörte Kinder, die an der Theke um Gummibärchen bettelten. »Toniktuka htvo? Wie geht es dir?«
    Zum ersten Mal, seit sie vor Alex’ Haus ins Taxi gestiegen war, verließ Cassie der Mut. »Es ist mir schon besser gegangen«, gab sie zu. »Horace«, bat sie, »du mußt mir einen Gefallen tun.«
    Kurz nach vier Uhr nachmittags, während Ophelia mit Connor im Park spazierenging, klingelte das Telefon. Zitternd nahm Cassie ab. »Ja?« fragte sie ein bißchen zu laut, und ohne zu wissen, wie sie reagieren sollte, wenn Alex’ Stimme ihr antwortete. Aber dann hörte sie Wills Stimme, blechern aufgrund
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