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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick
Autoren: Jodi Picoult
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Sohnes. Gestern habe ich nun die Scheidung von Alex Rivers beantragt, wegen seelischer und körperlicher Grausamkeit.«
    Diese Erklärung, die nicht einmal einen Monat nach Alex’ und Cassies einträchtigem Auftritt bei ihrer Ankunft mit Connor am Flughafen erfolgte, löste hektisches Geflüster aus, das über den Köpfen der Reporter aufstieg und sich wie ein erstickender Reif um Cassies Hals legte. Sie hielt sich am Pult fest und rettete sich hastig über die letzten Sätze auf der Seite. »Nach dieser Pressekonferenz sind alle Anfragen nur noch an meine Anwältin Carla Bonanno oder an Mr. Rivers selbst zu richten.« Sie atmete tief durch. »Im Interesse der Wahrheit bin ich jedoch bereit, nun ein paar Ihrer Fragen zu beantworten.«
    Hände flogen vor Cassie hoch und blockierten die Sicht auf die einäugigen Kameras. Stimmen überschlugen sich. »Ms. Barrett«, rief ein Reporter, »wohnen Sie immer noch bei Alex Rivers?«
    »Nein«, antwortete Cassie.
    »Hat er der Scheidung zugestimmt?«
    Cassie schaute kurz zu ihrer Anwältin, die links von ihr saß. »Die Papiere werden ihm heute zugestellt. Ich glaube nicht, daß er sie anfechten wird.«
    Ein weiterer Reporter drängelte sich nach vorn und wedelte mit einem Mikrofon vor dem Podium herum. »Körperliche Grausamkeit ist ein ungewöhnlicher Scheidungsgrund, Ms. Barrett. Haben Sie sich das nicht nur ausgedacht, um die Scheidung zu beschleunigen und auf diese Weise schneller an sein Geld zu kommen?«
    Cassie war wie vor den Kopf geschlagen über den arroganten Ton des Mannes, über die Unverfrorenheit, mit der er eine so indiskrete Frage stellte. Um Himmels willen, es ging um ihre Ehe. Alex war ihr Mann. »Ich habe nicht vor, Alex etwas wegzunehmen.« Außer mir selbst, dachte sie. »Und die Anschuldigungen sind nicht übertrieben.« Sie senkte den Blick, weil sie begriff, daß sie jetzt nicht mehr umkehren konnte. Sie verbannte jede Gefühlsregung aus ihrer Miene, hob den Kopf und sah alle und niemanden zugleich an. »Ich bin in den vergangenen drei Jahren von Alex Rivers körperlich mißhandelt worden.«
    Verzeih mir, verzeih mir, verzeih mir. Die Worte drehten sich in ihrem Kopf. Cassie wußte nicht, ob sie sie Gott oder Alex oder sich selbst zurief. Ihr Herz klopfte so stark, daß es den leichten Stoff ihrer Bluse zum Beben zu bringen schien.
    »Können Sie das beweisen?«
    Die Frage kam von einer Frau und wurde leiser gestellt als die meisten anderen, und vielleicht tat Cassie deswegen, wozu sie sich in einem Sekundenbruchteil entschloß. Den Blick starr auf die Tür hinten im Konferenzraum gerichtet, öffnete sie langsam die obersten drei Knöpfe ihrer Bluse, zog den Kragen und den BH-Träger beiseite und offenbarte einen häßlichen, lila schillernden Bluterguß. Sie zog die Bluse aus dem Rock und über den Bauch, dann drehte sie sich zur Seite, so daß man die geschwollenen, schwarzblauen Rippen sehen konnte.
    Im Konferenzraum explodierten zahllose weiße Blitze, und der Lärm wurde ohrenbetäubend. Cassie stand völlig regungslos, gab sich Mühe, nicht zu zittern, und wünschte, sie wäre weit weg.
    Als sie am Morgen danach aufgewacht war, war seine Seite des Bettes leer und die Decke glattgestrichen gewesen. Einen Augenblick lang starrte Cassie blind auf die Laken, die ordentlich aufgereihten Kissen. Vielleicht war es ja überhaupt nicht passiert. Vielleicht war Alex ja nie dagewesen.
    Sie duschte, ließ behutsam das heiße Wasser über die wunden Stellen laufen und schaute dann nach Connor. Die Nachtschwester reichte ihn ihr zum Stillen. Cassie saß in dem großen Schaukelstuhl und starrte gedankenverloren in den wunderschönen kalifornischen Morgen.
    »Wir müssen wieder weg«, flüsterte sie Connor zu. Dann stand sie auf, trug ihn zum Wickeltisch, riß das Klebeband der Einwegwindel auf und schob eine frische unter seinen Popo. Sie betrachtete seinen Körper - die langen, dünnen Beinchen; den dicken Bauch; die Babyspeckpolster an seinen Ärmchen, die fast wie die Muskeln eines Erwachsenen wirkten.
    Als die Schwester zurückkam, lächelte Cassie sie an. »Könnten Sie mir einen Gefallen tun?« fragte sie und ließ sie eine Wickeltasche mit mehreren Garnituren Kleidung und Schlafanzügen für Connor packen. Schließlich legte sie Connor in seine Wiege und ging nach unten.
    Sie ging nicht ins Eßzimmer, um Kaffee zu trinken; sie schaute auch nicht nach, ob Alex in der Bibliothek oder in seinem Arbeitszimmer war. Das tat nichts mehr zur Sache. Sie hatte
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