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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick
Autoren: Jodi Picoult
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daß es sie im wahrsten Sinn des Wortes umbrachte.
    Die Nacht hüllte sich in ein anderes, tieferes Schwarz, während Cassie ihre Möglichkeiten durchging. Sie schloß die Augen und sah zu ihrer Überraschung nicht Alex, sondern Will vor sich, wie er während des Sonnentanzes an einen heiligen Pfahl gefesselt war. Sie spürte die Hitze, die vom Boden aufstieg, hörte das Grollen der Trommeln und die Adlerpfeifen. Sie sah, wie Will sich losriß und das Leder seine Haut sprengte. Der Schmerz hatte ihn in die Knie gezwungen, aber anders hatte er sich nicht befreien können.
    Der Schaden war nicht wiedergutzumachen; Narben würden immer zurückbleiben. Aber selbst die blutigsten Narben verblaßten mit der Zeit, bis sie schließlich kaum noch zu erkennen waren und nichts als die Erinnerung an den Schmerz blieb.
    Cassie schob ihre Hand in Alex’, versuchte, sich die Temperatur seiner Haut einzuprägen, seinen Geruch und das Gefühl, das er ihr gab, wenn er neben ihr im Dunkeln lag. Diese Erinnerungen durfte sie behalten. Sie rieb mit dem Daumen über die weichen Linien in seiner Hand, um sich für das zu entschuldigen, was sie ihm antun mußte, und streichelte so ein zärtliches, rauhes Adieu in seine Hand.

27
     
    Einen grauenvollen Moment lang sah Cassie in die verkniffenen, erwartungsvollen Gesichter und dachte: Sie werden mir nicht glauben. Wahrscheinlich würden sie laut lachen. Alex Rivers? würden sie fragen. Das ist nicht Ihr Ernst. Und dann würden sie ihre Notizblöcke zuklappen, ihre Videokameras einpacken und sie beschämt und allein stehenlassen.
    Sie schluckte ihre Angst und ihren Stolz hinunter und rutschte unruhig auf dem Metallklappstuhl herum, den der Hotelportier für die Pressekonferenz hatte aufstellen lassen. Sie strich die Falten ihres dunkelblauen Rocks glatt. Ziehen Sie sich wie ein Schulmädchen an, hatte man ihr geraten. Nichts Mondänes, nichts Gewagtes. Als hätte sie sich die Aufmerksamkeiten, die Mißhandlungen selbst zuzuschreiben.
    Neben ihr saß auf einem identischen Stuhl Ophelia mit dem Baby. Connor hatte Schluckauf: die kleinen, abgehackten Hickser klangen für Cassie wie Schluchzen. Sie wußte, daß er mit seinen drei Monaten noch nichts begriff und sich nicht erinnern würde. So wie sie wußte, daß sie jedesmal, wenn er die Arme nach ihr ausstreckte, unwillkürlich zögern würde, weil sie in den silbernen Augen seinen Vater sehen würde.
    Sie räusperte sich und stand auf. Fast augenblicklich verstummten die Reporter und nahmen Habtachtstellung an wie eine Kompanie Zinnsoldaten. »Guten Morgen.« Cassie beugte sich über das Mikrofon und berührte es leicht mit der Hand.
    Es stieß ein ohrenbetäubendes Kreischen aus. Erschrocken wich Cassie einen Schritt zurück. »Verzeihung«, sagte sie leiser. »Vielen Dank, daß Sie gekommen sind.«
    Ihr schoß durch den Kopf, wie absurd das klang - als habe sie ein paar Freundinnen zum Kaffeeklatsch eingeladen. Wieviel leichter wäre das gewesen, verglichen mit dieser bedingungslosen Kapitulation vor einer Horde hungriger Löwen. Sie machte sich keine Illusionen mehr; dafür hatte Alex vorgestern abend gesorgt. Diese Leute waren nicht ihre Freunde, waren es nie gewesen. Sie kannten sie nur durch Alex; sie waren nur gekommen, weil sie erwarteten, etwas über ihn zu hören. Cassie selbst war unbedeutend. Wenn die Reporter sie, nachdem sie ihre Geschichte an sich gerissen hatten, überhaupt erwähnten, dann um sie als bedauernswerte Verrückte oder als Halbdebile hinzustellen, weil sie die ganzen Jahre nicht den Mut gefunden hatte, sich zu wehren.
    Cassie faltete den winzigen Zettel auseinander, den sie seit dem Frühstück mindestens hundertmal gelesen hatte, ihre vorbereitete Presseerklärung. Ophelia hatte ihr eingebleut, Augenkontakt zu halten, tief und ruhig zu sprechen – alles Schauspielertricks, um einem Publikum sympathischer zu erscheinen. Doch sobald ihre Finger deutlich zitternd am Rand des lappigen Blattes klebten, konnte sie sich an nichts von dem erinnern, was sie eingeübt hatte. Statt dessen begann sie den Text abzulesen wie ein Schulkind in der zweiten Klasse, das zu sehr damit beschäftigt ist, die ungewohnten Worte richtig auszusprechen, um dem Inhalt irgendeine Bedeutung geben zu können.
    «Ich heiße Cassandra Barrett. Die meisten von Ihnen kennen mich als Alex Rivers’ Ehefrau. Wir haben am 30. Oktober 1989 geheiratet, und unsere Ehe stand wiederholt im Brennpunkt allgemeinen Interesses, zuletzt nach der Geburt unseres
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