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Auf dem Weg nach Santiago

Auf dem Weg nach Santiago

Titel: Auf dem Weg nach Santiago
Autoren: Jean-Noel Pierre / Gurgand Barret
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Heiligtum am 9. April 1137, einem Karfreitag, nach
verrichteter Beichte sterben. Sogleich verbreiten die eifrigen Propagandisten
von Compostela die Nachricht in alle Himmelsrichtungen. Dem Pilger ist jedes
Zeichen recht, und dieses da gibt den schlimmsten Ungläubigen Hoffnung.
    Und hier noch die Geschichte eines
anderen Büßers. Pons, Herr von Leras bei Lodève, erkennt im Jahre 1132 die
Abscheulichkeit seines Räuberlebens und seiner Ausschweifungen. Zusammen mit
fünf Gefährten unternimmt er eine Bußfahrt, die ihn nacheinander nach
Saint-Guilhem-le-Desert, Santiago de Compostela,
Saint-Michel-au-peril-de-la-mer, Saint-Martin von Tours und Saint-Martial von
Limoges führt. 9
    Der Sinn für das Heil entspricht ganz
genau dem Sinn für die Sünde. Wie sollte man sich nicht selbst in Frage stellen
angesichts derart entsetzlicher Fehler, daß man sie sich nicht einzugestehen
wagt oder kein Beichtvater einem dafür die Absolution erteilen will? Mindestens
zwei Fälle dieser Art sind bekannt: der Karls des Großen und der eines
unbekannten Christen, der seine Sünde schriftlich auf einem Pergament erzählt,
es zusammenrollt und damit nach Compostela eilt, wo er nach der Legende die
Rolle auf den Altar des großen heiligen Jakobus legt und in tiefster
Zerknirschung weint; als er seine Pergamentrolle wieder zu sich nimmt, ist die
Tinte wunderbarerweise ausgelöscht — ausgelöscht auch die Sünde. Karl der Große
erfährt die Vergebung auf dieselbe Weise: Ein Engel bringt ihm die Nachricht
von seiner Lossprechung, diesmal dank der Vermittlung des heiligen Ägidius.
    Doch ist es nicht notwendig, so schwer
— so tödlich! — gefehlt zu haben, um sich zu einer vollständigen und
beispielhaften Reinigung verpflichtet zu fühlen. Manchen feinfühligen Naturen
genügt auch schon ein winziger Diebstahl, ein »fleischlich Werk« an einem
Freitag oder ein paar Bissen Schweinernes in der Fastenzeit. Abgesehen von der
durch den Beichtvater auferlegten Buße gewinnt die Sünde aus dem Schrecken des
Sünders selbst ihr Gewicht; die Hölle, diese wohlvertraute Vorstellung, lauert
immer ganz nah.
    Man muß »die Mauer durchbrechen« — , wie es das Lied von den Pflichten eines Pilgers singt:
     
    Avant que je m’en aille
    Il faut penser à moi
    Je romprai la muraille
    Qui me retient en moi
    C’est le temps de l’offense
    Où je suis renfermé
    Tant que par pénitence
    Sois en bien confirmé. 10
     
    Bevor
ich aufbreche,
    Muß
ich über mich nachdenken.
    Ich
werde die Mauer durchbrechen,
    Die
mich in mir selbst zurückhält.
    Es
ist die Zeit der Sünde,
    In
der ich eingeschlossen bin.
    Solange
ich Buße tue,
    Bin
ich wohl bewahrt.
     
    Die natürliche Unruhe eines Menschen,
der in ständiger Unsicherheit lebt, steigert sich im seelischen Bereich zu
äußerster Erregbarkeit, und ein großer Pilgergang ist immer noch die beste
Versicherung für das ewige Leben durch die lange Dauer der Reise, durch die
große Anzahl unterwegs verehrter Reliquien und besuchter Heiligtümer, durch die
gewährten Ablässe und natürlich auch durch den hohen Namen dessen, zu dem der
Weg führt.
    Der Kult des heiligen Jakobus ist um so verständlicher, als dieser Jünger Jesu
einer der beiden Apostel ist, deren Grab sich im Abendland befindet. Petrus
hatte in Rom das Martyrium erlitten; auch er war Christus nahe und Zeuge seiner
Wunder gewesen, hatte ihn berührt, mit ihm gesprochen, ihn angehört, mit ihm im
Abendmahlssaal das Brot gebrochen und an den ersten Stunden der Passion
teilgenommen. Es scheint jedoch, daß die Wallfahrt nach Rom nie einen den
Sehnsüchten der abendländischen Christen so tief angemessenen Charakter
angenommen hat wie jene nach Santiago. Vielleicht liegt es daran, daß Rom nicht
diese geographische Lage am Ende einer antiken keltischen Straße besitzt, am
äußersten Ende der nach damaligem Verständnis bewohnten Erde: finis terrae!
    Die Wunderberichte bezeugen die Macht
der Fürbitte des heiligen Jakobus und sind ihrerseits
Ursache neuer Berufungen und Gelübde. Alles wird möglich. Unzählige Gefangene
haben dem heiligen Jakobus gelobt, ihn in seinem Heiligtum zu verehren, wenn er
nur ihre Ketten sprengen, ihre Kerker öffnen oder ihren Richtern Milde
einflößen wolle; zahllos sind die Seeleute, die, an ihre zerbrochenen Masten
und zerfetzten Segel geklammert, dem Heiligen ihr Gelöbnis entgegenschreien,
wenn er nur den Sturm besänftigen möchte, die Wanderer, denen aus dem Unwetter
ein Rudel Wölfe entgegenrennt, oder
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