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Auf dem Weg nach Santiago

Auf dem Weg nach Santiago

Titel: Auf dem Weg nach Santiago
Autoren: Jean-Noel Pierre / Gurgand Barret
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und ein Gebetbuch in chaldäischer Sprache bei sich; in seinem Paß
steht, er sei von schwarzer Hautfarbe wie ein Äthiopier und verstehe die
Sprachen Spaniens nicht; bekannt ist nur noch, daß er über Sizilien
zurückreisen wird. 5
    Der Ruf von Compostela ist aber noch
sehr viel weiter hinausgedrungen. Zeugnis davon gibt der flämische Franziskaner
Wilhelm von Rubruck. Dieser Wilhelm, der König Ludwig den Heiligen gut kennt, vielleicht
sogar sein Beichtvater ist, reist 1236, zwanzig Jahre vor der Geburt Marco
Polos, in diplomatischem Auftrag zu den Mongolen. Nicht weit von der Nordgrenze
der Wüste Gobi begegnet er im Lager des Mangu Khan, eines Enkels des Dschingis
Khan, einem armenischen Mönch namens Sergius, der in Jerusalem gelebt hat.
Dieser Sergius ist bei dem Mongolenherrscher in Ungnade gefallen und hat sich,
um dessen Gunst wiederzuerlangen, dazu verpflichtet, auf den Papst einzuwirken,
damit dieser alle abendländischen Nationen dem Mangu Khan unterstelle. Sergius
ist sich darüber im klaren, daß dieses Versprechen schwer zu halten ist. Er
fragt daher Wilhelm von Rubruck, ob er wohl glaube, daß ihm der Papst Pferde
leihen werde, um nach Compostela zu reiten und dort die Hilfe des großen
heiligen Jakobus anzuflehen. 0
    Nicht alle Compostelapilger — man nennt
si e jacquets, jacquots, jacquaires, jacotes und sogar jacobipetes, das heißt »die zum heiligen Jakobus flehen« — haben einen Khan zu besänftigen.
Aber an Beweggründen mangelt es nicht, von den erbaulichsten angefangen bis zu
denen, die man besser verschweigt; es ist nicht immer leicht und auch nicht
gerecht, die einen von den anderen zu trennen.
    Das erste, mächtigste und zweifellos am
weitesten verbreitete Motiv ist die Verehrung des Apostels, die echte
Frömmigkeit, die Sorge um das Heil:
     
    Pour avoir mon Dieu propice
    Fis vceu d’aller en Galice
    Voir saint Jacques le Grand. 7
     
    Um meinen Gott gnädig zu stimmen,
    Tat ich das Gelübde, nach Galicien zu
ziehen,
    Um den großen heiligen Jakobus zu
sehen.
     
    Der Glaube ist im 10. Jahrhundert eine
wahre innere Not und die Sorge um das Heil fast eine fixe Idee. Als »Lösegeld
für seine Seele« macht 1203 ein gewisser Pierre Garin aus Arras das Gelübde,
nach Compostela zu pilgern. 8 Diese Menschen voll Inbrunst und Angst
lernen aus der Geheimen Offenbarung des Johannes die Rätsel der Welt zu lösen.
Sie besitzen nur die Heilige Schrift, die Bibel, um die Finsternis, in der sie
sich bewegen und alles zum Zeichen wird, zu erhellen. Keiner wird am Tage, da
die Seelen gewogen werden, Gottes unerbittlicher Gerechtigkeit entkommen. Unter
solchen Umständen ist Buße das einzige Unterpfand für die Ewigkeit.
    Zum gestrengen Gott des Weltgerichts
gesellt sich tiefinnigst das Bild eines menschlichen Christus, des über den Tod
siegenden Erlösers, der unser beklagenswertes, elendes Leben läutert und
emporhebt und im unaussprechlichen Geheimnis des Heiligen Zeitliches und Ewiges
ineinanderfügt. Die stets impulsive Frömmigkeit wird freier, ungezwungener. Der
Aufschwung zum Höchsten nährt sich von sinnenhaften Zeichen: Die Reliquien der
Heiligen werden Gegenstand einer unerhörten religiösen Leidenschaft; das
Heilige verkörpert sich in den primitivsten Formen, in Füßen, Totenschädeln und
Haaren. Die bloße Verehrung genügt nicht mehr — alles muß berührt werden. Man
betet, wie man ißt, nämlich mit den Fingern. Über dem unbedeutendsten
Reliquienschrein wird eine Kirche errichtet. So könnte man dann das ganze Leben
hindurch von einer Reliquie zur anderen wandern, die Allerheiligenlitanei auf
den Lippen.
    Der zu ruhelosem Umherirren verurteilte
Kain, Abraham und Mose auf dem Weg zum Gelobten Land — Gehen ist zugleich Buße
und Voranschreiten auf dem Weg zum Himmel. Auch Bedürfnis, Sehnsucht. Aufbruch
ins Anderswo. Die großen Wallfahrten sind Antworten auf die Unruhe in all ihren
Erscheinungsformen und bündeln alle Gebete.
    Für diese Extremisten ist das Verlassen
von Familie und Beruf, um am Ziel all der dunklen Wege den heiligen Jakobus zu
verehren, sehr wohl das mindeste, was man im Falle innerer Unruhe für sein Heil
tun kann. Dies um so mehr, als manchen vieles verziehen werden muß.
    Wilhelm von Aquitanien zum Beispiel.
Bernhard von Clairvaux, der heilige Bernhard, klagt ihn an, zur Häresie
ermutigt zu haben. Die Bekehrung entspricht der Schwere der Sünde: Eine
besondere Gnade läßt den Jakobuspilger und beispielgebenden Büßer Wilhelm bei
seiner Ankunft im
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