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Auf dem Rücken des Tigers

Auf dem Rücken des Tigers

Titel: Auf dem Rücken des Tigers
Autoren: Will Berthold
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Gaukeleien, ihre Versuchungen.
    Einsamkeit schmeckt am Abend nach gärender Magensäure und am Morgen nach schalem Whisky.
    Und sie ist stumm, am Morgen wie am Abend.
    Diese Ruhe quält mich. In der Stille werden die Gedanken laut. Ich muß diese Ruhe töten. Fast hätte ich vergessen, mich von der Musik in das Dunkel geleiten zu lassen.
    Ich werde einige Platten auflegen: keineswegs Beethovens Schicksals-Symphonie und schon gar nicht Wagners Götterdämmerung. Aretha Franklin ist vielleicht das richtige, ihr Gospelsong ›The day is past and gone‹. Während ich ihr zuhöre, schließe ich die Augen, schlürfe den nächsten Whisky, fast unbewußt. »While the blood runs warm«, singt die zärtlich-wilde Stimme.
    Die Platte ist abgelaufen, dreht sich zweck- und tonlos.
    Da fällt mir Dinah Washington ein, die Stimme einer Toten, die lebt: »The song is ended«, füllt negroide Schwermut den Raum. Stimme einer Frau, die mir mit dem schlechten Beispiel vorangegangen ist.
    Während ich auf ihre Erinnerung trinke, wird mir bewußt, daß die Spannung beim Griff nach dem Glas schwächer wird. Auch die Hast. Ich setze es nicht mehr so schnell an den Mund wie bisher. Ich habe Whisky gewählt, weil sein rauchiges Aroma den leichten Mandelgeruch des Zyankali noch am besten überlagert. Whisky schmeckt nach Medizin; Medizin ist bitter.
    Ich hatte mich früher, rein beruflich und dadurch theoretisch, mit dem Phänomen Suizid befaßt. Es wurde mir klar, daß ich nach der Papierform kein Kandidat des Freitods bin:
    Ich bin nicht arm, sondern reich.
    Ich ersticke auch nicht an der Übersättigung, weil ich mir aus Geld nichts mache. Eigentlich brauchte ich nur ein paar hundert Mark für Schnaps, und meine letzte Rechnung ist beglichen. Zwar bin ich nicht gesund, aber auch nicht unheilbar krank. Außerdem bin ich gänzlich frei von Liebeskummer, der, nach der Lehre der Psychologen und Statistiker, jeden zweiten Lebensmüden in den Tod jagt.
    Die Suizid-Theoretiker wissen, daß der gefährdete Mensch sich tötet, wenn er seinen Höchstwert verloren hat. Diese Frage dürfte sich in meinem Fall recht interessant gestalten.
    Einer meiner Höchstwerte hieß Laura, war eine Frau von dreißig und stand mir so nahe, daß ich mich ein einziges Mal in meinem Leben in den Wunsch und Wahn hineinsteigerte, mit ihr für immer zusammen leben zu wollen.
    Ein anderer Höchstwert war die naive Vorstellung, der letzte Tote des Zweiten Weltkriegs sei die Barbarei gewesen. Als dritter – und vielleicht dümmster – Höchstwert hatte sich der Irrtum entlarvt, man könnte durch Schreiben die Welt ändern oder – ich wage es kaum hinzuschreiben – verbessern. So verblendet kann ein Mann sein, dessen Intelligenzquotient in seinen allerbesten Jahren Spitzenwerte erreicht hatte.
    Ich habe in der letzten Stunde abwechselnd geschrieben und getrunken. Es ist vielleicht an der Zeit, eine kleine Zwischenbilanz zu machen: noch 24 Gläser stehen auf dem Tisch.
    Ich schiebe sie wieder durcheinander, bevor ich mein Los greife. Das nächste Glas erhebe ich auf die Frauen und Mädchen. Abgesehen von der Geschichte mit Laura hatte ich mit dem schönen Geschlecht nie Schwierigkeiten gehabt. Als ich jung war, erntete ich reichlich Gunst. Später, als ich sie nicht mehr umsonst erhielt, suchte ich sie nicht vergebens, denn ich bin ein Mann mit Geld.
    Auf die Frauen also, die von allen Menschen noch dem sozialen Ausgleich am nächsten kommen, weil sie Männern, die sie mögen, alles schenken und sich an weniger geliebte zu Höchstpreisen verkaufen.
    Meine Gläser sind gezählt, und ich möchte keineswegs versäumen, im einseitigen Zwiegespräch einen Trinkspruch auf Erik auszubringen.
    Er ist mein Halbbruder, gleicher Vater, verschiedene Mütter. Wir waren mehr als Brüder: Wir waren Freunde. Wir waren mehr als Freunde: Wir waren Brüder. Und wir waren mehr als Freunde und Brüder zusammen: Wir gingen uns aus dem Weg, um diese seltsame Verbundenheit nicht zu gefährden.
    Während ich Eriks Bild beschwöre, fällt mir automatisch der Bewacher vor der Haustüre ein.
    Ich gehe noch einmal ans Fenster.
    Die Straße ist leer, das Flußbett ausgetrocknet. Am jenseitigen Ufer schlendert Arm in Arm ein Liebespaar dahin.
    Nein – der Fluß donnert.
    Der Widerling kommt aus der Kneipe an der Ecke. Es ist der Kerl mit der Schirmmütze. Er sieht aus wie ein Taxifahrer, aber in seinen Wagen möchte ich nicht steigen.
    Schickt ihn Erik hinter mir her?
    Bin ich dem Freund-Bruder
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