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Auf dem Rücken des Tigers

Auf dem Rücken des Tigers

Titel: Auf dem Rücken des Tigers
Autoren: Will Berthold
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der Partner aussätzig.
    »Er arbeitet für uns alle«, entgegnete Aglaia, »für dich, für mich, für diesen – für Christian, und für den Konzern.«
    »Und dieser für die Volkswirtschaft«, ergänzte Sebastian. »Ein seltsamer Weg: Im Frühkapitalismus verhungerten die Arbeiterkinder, so sie sich nicht als Lumpenersatz durch die Fabrikschornsteine ziehen ließen, und im Spätkapitalismus verenden die Einpeitscher des Systems am Herzinfarkt.« Er verschluckte sich an seinem Zigarettenrauch und hustete, »Irgendwie liegt darin eine gewisse Gerechtigkeit. Findest du nicht?«
    »Du solltest dich feiner ausdrücken; in jedem Fall aber von deinem Erzieher besser sprechen.«
    »Ich erziehe mich selbst«, erwiderte Sebastian.
    »Man merkt's«, versetzte Aglaia und lächelte. »Und die Geschichte – mit den Fabrikschornsteinen …«
    »… war noch zu Beginn unseres Jahrhunderts in England üblich.«
    »Wo sich inzwischen die Sitten auch etwas geändert haben«, antwortete Aglaia.
    Sie hatte nichts gegen die roten Ambitionen ihres Neffen. Sie schienen ihr eine zeitübliche Kinderkrankheit zu sein wie die Masern oder Scharlach. Wenn er erst einmal als Alleinerbe des Konzerns den Unterschied zwischen Millionen und Milliarden erfaßt hätte, würde er diese Röteln verlieren und im vollen Umfang die ökonomische Klaviatur beherrschen, die er heute Ausbeuterei nannte.
    »Nur in der Erscheinungsform«, schränkte Sebastian ein, »nicht im Prinzip.« Seine theoretischen Erkenntnisse nutzte er wie einen Haltegriff: Nun wagte er, Aglaia anzusehen. Er konnte nicht weitersprechen, weil sein Mund trocken war. Er versuchte, ihn mit einer ebenfalls ausgetrockneten Zunge sprechfähig zu machen.
    Er schluckte ein paarmal.
    »Das mußt du mir genauer erklären«, sagte Aglaia ohne Spott.
    Sie lehnte sich zurück, schloß die Augen, darauf wartend, daß sein Blick wie feiner Sand über ihre Haut rieselte. »Gab es schon einmal eine Gesellschaftsform«, fragte sie dann, »in der der Mann auf der untersten Sprosse der sozialen Stufenleiter so gut gelebt hat?«
    Aglaia war auf sein Lieblingsthema eingegangen, das sie im Internat mit heißen Köpfen erörterten. Sebastian war dialektisch darauf eingeschossen: Repressiver Konsum – Ersatz der Peitsche durch künstliche Kaufreize – Korrumpierung der Arbeiterklasse durch pseudosoziale Errungenschaften – Konservierung des Bildungs-Monopols – Manipulierung der Meinung – Monopolisierung der Macht. Er kannte seinen Marx und seinen Marcuse. Er brauchte nicht einmal darüber nachzudenken.
    Aber sein Hirn war leergepumpt. Er spürte, wie alles Blut in seinen Unterleib schoß, ihn vergrößerte, bis zum Platzen aufblähte, wie ihn die Erektion stottern machte und sein Gesicht in einen Peniskopf verwandeln mußte. Sebastian suggerierte sich, daß Aglaia seine Tante sei, aber es änderte nichts daran, daß sich dieser verdammte Auswuchs zwischen ihre wenig tantenhaften Oberschenkel stoßen wollte – und er zu feige war, oder zu anständig, oder zu dumm, oder zu jung.
    »Am erfolgreichsten – ich simplifiziere jetzt bewußt«, fuhr Aglaia fort, »ist doch wohl ein System, in dem der kleine Mann sich am meisten leisten kann.« Sie lächelte ihn an. Ihr Blick glitt über seinen Körper. Es schien Sebastian, als bliebe er an der Stelle hängen, für die sich der Junge schämte, weil sie sich hart und steil von seiner Badehose abhob.
    »Man gesteht ihm Konsum zu, damit man an den Produktionsmitteln verdient.« Sebastian drehte sich um, legte sich auf den Bauch: verdammte Erektion. Natürlicher Vorgang: Die Schwellkörper ziehen das Blut an, das Glied wächst und wächst und wächst, genarrt von der Phantasie. Sie ist hübsch, hat eine blendende Figur und wer wird es schon mit seiner Tante treiben, wenn man noch nicht einmal weiß, wie man ihr das verdammte weiße Dreieck auszieht.
    »Und der Kapitalismus läßt die heimlichen Verführer wie Bluthunde von der Kette«, sagte er, »hämmert dem Verbraucher Tag und Nacht allen möglichen Unfug ein. Um zu konsumieren, schindet er sich beruflich, macht Überstunden, hält die Schnauze und frißt täglich ein Stück Tod durch gefälschte Lebensmittel. Den geistigen Tod saugt er mit manipulierter Meinung in sein Gehirn ein und …«
    Aglaias Beine öffneten sich wie eine Schere. Sebastian merkte, daß sie ihm den Faden abschnitt. Während er Luft holte, überlegte er wie sie sich verhalten würde, wenn er sich jetzt auf sie stürzte. Er las
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