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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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Gott viele Geschöpfe so dumm erschaffen hat, so gefügig, so ergeben und so nützlich für uns? Sie stehen nur da und essen Gras und versorgen uns mit nahrhafter Milch oder mit Fleisch von ihrem eigenen Körper. Sie picken und kratzen und lassen uns ihre ungeborenen Kinder nehmen, ihre Eier, Tag um Tag, und sie beklagen sich nicht, sondern legen jeden Tag aufs Neue Eier. Oder sie lassen zu, dass wir ihnen ihre Kinder wegnehmen, sie umbringen und essen, und fressen einfach weiter Gras, bis wir kommen und ihnen die Wolle von der Haut scheren und die Tiere dann später ebenfalls essen. Sie ziehen unsere Fahrzeuge oder pflügen für uns, und sie sind glücklich, wenn sie gelegentlich mit etwas gefüttert werden, das von selbst wächst und lediglich von uns abgeschnitten werden muss. Wie könnten wir existieren ohne diese Kreaturen? Sie sind Nutztiere. Und wir unterscheiden uns von ihnen, nicht wahr?«
    »Das will ich doch hoffen«, sagte ich. »Natürlich stehen wir irgendwo zwischen Engeln und Tieren. Wir sind nicht wirklich Engel, und doch sollten wir nicht so sein wie Tiere. Jedenfalls gibt es eine reiche Vielfalt von Tieren. In allen Formen und Größen und Farben. Sie sehen es ja im Zoo!«
    Nein, sagte er, er wolle nicht in den Zoo gehen. Es verblüffte mich, wie er es formulierte. Er habe nie ein Interesse gehabt, sagte er, noch einmal einen Zoo zu sehen.
    Das war ungewöhnlich, deshalb fragte ich: »Warum denn nicht?«
    »Es kam so«, sagte er. »Als ich ein kleiner Junge war, herrschte hier in Deutschland Krieg. Mein Vater war natürlich die meiste Zeit weit weg. An der Front. Und irgendwann kam er nicht mehr zurück. Eines Tages ging meine Mutter mit mir in den Zoo. Ich erinnere mich noch ganz genau. Es war ein Sonntag, und meine Mutter arbeitete an diesem Tag nicht. Wir fuhren mit der Straßenbahn. Es war ein großes Abenteuer für mich. Wir mussten uns in einer Schlange anstellen und gingen durch ein großes Tor. Ich sehe das Tor noch immer vor mir.«
    Er machte eine Pause, dann fuhr er fort: »Es war nicht so wie heute, wenn Kinder in den Zoo gehen, nehme ich an. Ich glaube, dass einige Tiere weggebracht worden waren, und es gab auch keine Stände mit Eis oder bunten Postkarten. Aber für mich, einen kleinen Jungen, war alles neu und aufregend. Vergessen Sie nicht: wir waren nicht wohlhabend oder so. Ich erinnere mich an einen Bären und ein paar Löwen und daran, dass ich mich fest an die Hand meiner Mutter klammerte, denn damals hatte ich schon von Löwen gehört, die unartige Kinder auffressen.
    Und dann gingen wir um eine Ecke und sahen einen großen Käfigbereich vor uns liegen. Ich nehme an, diese Käfige waren ursprünglich für große Tierarten eingerichtet worden, vielleicht für Großkatzen, wer weiß? Für mich ist es eine jener Erinnerungen, die man klar vor sich sieht, die man aber nicht einordnen kann. In einem der Käfige waren nämlich Menschen. Richtige Menschen. Und davor standen Kinder, die sie betrachteten, auch Erwachsene. Wir schlossen uns dieser Gruppe an, weil wir sehen wollten, was los war. Ich weiß nicht, vielleicht dachte meine Mutter, es wäre Fütterungszeit, oder sie würden einen Käfig reinigen, und das wäre doch interessant. Jedenfalls zog sie mich dorthin, zu der Gruppe, um in diesen Käfig zu schauen.
    Sie war schockiert. Sie keuchte oder schnappte nach Luft, ich erinnere mich, dass sie etwas Schlimmes zu einem der Menschen sagte, die da herumschrien, und es gab ein bisschen Streit. Dann zog sie mich fort. Wir waren nicht lange im Zoo, und danach lief sie schnell und brachte mich nach Hause, und ich erinnere mich, dass ich weinte und schrie, weil ich noch die Pinguine sehen wollte. Sie hatte mir nämlich versprochen, dass sie mir die Pinguine zeigen würde; wir hatten extra auf der großen Tafel am Tor nachgeschaut, wo sie waren, und jetzt würde ich sie nicht sehen! Zu Hause hatte ich sogar ein Bild von einem mutigen Forscher am Südpol mit Pinguinen. Keine Pinguine! Ich hatte sie nicht gesehen und war furchtbar enttäuscht. Vermutlich habe ich in der Straßenbahn einen Wutanfall bekommen oder mich ekelhaft benommen. Wie Kinder das eben tun. Sie schnauzte mich an, was sie sonst selten tat, sogar wenn sie unter Druck stand, und es war ja Krieg, die Leute waren oft unter Druck. Sehr oft.«
    Er schwieg eine Weile, blickte in Gedanken zurück. Dann schüttelte er sich wie ein nasser Hund, als wolle er unangenehme Gefühle abschütteln. »In jenem Käfig«, sagte er, »waren
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