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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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Menschen. Ich erinnere mich sogar, wie sie aussahen. Es waren sechs oder sieben Männer, eine kleine Gruppe. Sie hatten gestreifte Schlafanzüge an, ein bisschen wie mein eigener. Sie sahen müde und schmutzig und hungrig aus. Sie saßen da, an die Käfigwand gelehnt, alle außer einem. Der eine stand am Gitter und blickte hinaus auf die Leute, die zu ihnen hereinschauten. Sie waren - ich lernte das Wort erst später kennen - Zwangsarbeiter. Vermutlich von irgendwoher aus dem Osten. Weil so viele Männer bei der Armee waren, brauchte der Zoo vermutlich Arbeiter zum Füttern und Reinigen der Käfige und für alles, was sonst noch nötig war. Für die schwere Arbeit hatte man dem Zoo wohl ein paar Zwangsarbeiter zugeteilt. Ich nehme an, sie wurden einfach in Käfigen untergebracht.
    Aber ich habe dieses Bild noch immer vor Augen. Jener Mann an den Gitterstäben, der zu uns herausstarrte, während wir hineinstarrten. Seither hatte ich nie wieder Lust, einen Ort zu besuchen, wo Geschöpfe hinter Gittern gehalten werden, auch wenn das zur Folge hatte, dass ich nie Pinguine gesehen habe.«
    Wieder entstand eine Pause.
    Es gab auch nicht viel, was ich auf seine Worte hätte sagen können.
    »Und deshalb frage ich mich, ob Gott wirklich Menschen und Tieren gleichermaßen hilft. Denn ich habe als kleiner Junge gelernt, dass es Menschen gibt, die andere Menschen wie Tiere behandeln. Buchstäblich. Menschen, die andere Menschen in Käfigen halten. Und dass es andere gibt, die draußen stehen und sie betrachten und auslachen und mit Gegenständen bewerfen. Und obwohl ich zu jung war, um es wirklich zu verstehen, wusste ich irgendwie, dass diejenigen, die Menschen wie Tiere behandeln, diese auch wie Tiere umbringen können. Das macht keinen Unterschied mehr. Aber wie konnte das sein, fragte ich mich damals, wenn doch Gott selbst einen Unterschied gemacht hat?«
    Die Schwachheit und Dummheit und Grausamkeit der Menschheit hatte sich wieder einmal manifestiert. Geschichten wie diese werden sich wohl immer wieder ereignen.
    »Schließlich habe ich doch noch Pinguine gesehen«, erzählte der Mann nach einer weiteren Pause. »Keine wirklichen, nur in einem Film. Sie leben, wie ich erfuhr, in einer Welt, in der alles weiß und sauber und rein ist. So stelle ich mir seither den Himmel vor. Weiß. Sauber. Rein. Als einen weiten, offenen Platz. Im Himmel gibt es nur Pinguine. Und - weit und breit ist kein menschliches Wesen in Sicht.«

Nachwort
    Ich wuchs in einer kleinen jüdischen Gemeinde in Nordengland auf; fast jeder dort sprach Englisch mit einem schweren »mitteleuropäischen« Akzent, und die Leute hatten Namen, die sich von denen meiner englischen Mitschüler unterschieden. Es war, kurz gesagt, eine Exilgemeinde, obwohl ich damals noch nicht verstand, was das bedeutete: Flüchtlinge, Überlebende, die noch einmal von Neuem anfangen mussten, aber ihre Vergangenheit und ihre Erinnerungen mit sich herumschleppten.
    Später, nachdem ich studiert hatte und Rabbiner geworden war, arbeitete ich mit genau solchen Menschen, nur waren sie natürlich inzwischen ein paar Jahre älter. Sie gehörten zur Generation meiner Eltern. Daneben hatte ich mit englischen Juden zu tun, die nicht ins Exil hatten fliehen müssen, sich aber dennoch als Minderheit fühlten, und mit Nichtjuden, die mit dem Gedanken spielten, zum Judentum überzutreten, sowie mit Nichtjuden, die einfach das Gefühl hatten, ein Rabbiner könne vielleicht ihre Fragen ebenso gut beantworten wie ein Priester.
    Später führte mich mein beruflicher Werdegang nach Mitteleuropa und in die Karibik, dann zurück nach Europa. Hier hatte ich viel mit Menschen zu tun, die einst ins Exil gegangen und irgendwann zurückgekehrt waren - zumindest physisch führten sie ihr Leben seitdem in ihren Geburtsländern fort, obwohl sich diese grundlegend geändert hatten. Es gab auch Menschen, die gewisse schlimme Ereignisse der Vergangenheit noch selbst durchlebt hatten oder indirekt davon betroffen gewesen waren. Übrigens besteht der Unterschied zwischen Mahnmalen in England und Mahnmalen in Europa darin, dass sich in England die Mahnmale auf Menschen beziehen, die weggegangen sind, die gekämpft haben und in der Ferne getötet wurden, während in Europa die Gedenktafeln, die Statuen und Mahnmale jenen gelten, die in ihrer Heimat gestorben sind.
    Bei meiner Arbeit als Rabbi sprach ich mit vielen Menschen, auch mit anderen Rabbinern, mit Ärzten und Rechtsanwälten und hörte viele ihrer
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