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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Autoren: Beate Rothmaier
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als hätte ihm jemand den Saft abgelassen; dann blickte er im Zimmer umher und begann von etwas anderem zu reden.
    Im Herbst mobilisierten wir unsere letzten Reserven, um das Heft zur EWR -Abstimmung noch zu produzieren. Als es ausgeliefert und die Abstimmung verloren war, berieten wir die Lage und beschlossen, die Postille fürs Erste einzustellen. Mir war das recht, denn nun hatte ich Zeit für das Sequenzierungsthema und für meinen zweiten Comic.
    »Sag mal, ödet dich das nicht an? Diese endlose Benjamin-Rezeption in den USA und hier erst noch in einem Märchensong, mit verschwommenem Blick getextet, getrübt von einem Kulturimperialismus« – sie sagte tatsächlich Kulturimperialismus –, »der sich ohne Hemmungen verbreitet, die Welt überschwemmt mit Musik, die du wohl bedeutsam findest, die aber für nichts weiter steht als plumpes Herrenmenschengebaren, das allein auf der skrupellosen Ausbeutung der kulturellen Leistungen ethnischer Minderheiten beruht, und ich meine damit keineswegs die Minderheiten in Europa, das Argument des Eurozentrismus sticht bei mir nicht, das mal vorweg, kurzum die musikalischen Traditionen anderer Völker weltweit auszugsweise und mainstreamtauglich zu plündern, die Rosinen zu picken sozusagen, Paul Simon hat ja schon vor fünf Jahren vorgemacht, wie damit viel Geld verdient werden kann, und erst noch unter dem Vorwand der Entwicklungshilfe, hast Graceland bestimmt auch im Regal stehen, wie kannst du das nur unterstützen, den Zeitgeist, der in den USA generiert wird und damit das System und mit ihm die imperiale Vormachtstellung erhält? Und dies unter dem Label des Independent!«
    Paules großer Mund öffnete und schloss sich. Sie presste die geschwungenen Lippen zusammen, öffnete sie wieder und sagte verächtlich: »Hansel und Gretel. In einer Bar in Berlin!« Sie schnaubte, und ihre Augen glitzerten. Ich wollte augenblicklich mit ihr ins Bett. Stattdessen stand ich im Plattenladen in einer Schlange vor der Kasse und drehte eine CD von Laurie Anderson in den Händen, die auf einmal glühend heiß geworden war. Paule hatte sich vorgedrängelt und stand jetzt dicht neben mir. Sie trug eine Norwegermütze mit zwei Bommeln, die, während sie redete, zusammen mit den Zöpfen im Vierklang auf ihren Brüsten baumelten. Ich riss meinen Blick los und schaute nach vorne, wo sie Probleme mit dem Kartenleser hatten.
    »Mir gefällt die Musik einfach«, sagte ich lahm. Dann nichts mehr. Auch bei ihrer Karte machte der Apparat Schwierigkeiten, ich nutzte die Gelegenheit und entkam in den kühlen Herbstabend.
    Selbstbeschimpfungen, meine Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit betreffend, trieben mich voran. Nach einigen Straßen hörte ich schnelle Schritte hinter mir.
    »Warte«, rief sie und blieb keuchend stehen. »Ich hab noch was vergessen.« Sie packte mich am Ärmel und wollte lostexten, doch ich kam ihr zuvor.
    »Wie Musik und Sprache verwoben sind. Das Krächzen der Geige, der Gesang, das Heulen und Jaulen, Kreischen und Zittern. Das ist doch neu und außerdem sehr weiblich. Eine Performance wie die von Laurie Anderson ist doch an sich schon subversiv, zumindest ist sie es wert, ohne Schere im Kopf angehört zu werden. Außerdem ist die musikalische Verarbeitung von Theorie in meinen Augen eine künstlerische Transformation, deren Anlass doch hier nur einen Teilaspekt aufgreift. Im Kunstwerk – und wir sprechen hier von einem zweieinhalbminütigen Popsong – kulminiert eine Theorie in einer einzigen, zugegeben verkürzten Aussage, das ist halt die Quintessenz, und bietet wieder Anlass zu Interpretation, andere Künstler beziehen sich darauf und so fort. Das ist für mich ein legitimes Kunstverfahren, im Falle von Laurie Anderson aber von Imperialismus zu reden ist einfach lächerlich. Schau dir nur mal die Verkaufszahlen an.«
    Paule öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, ich ließ sie einfach stehen und ging weiter. Yes. Insgeheim. Und noch einmal umgedreht, sehr schnell.
    »Im Biwak, was? In der Eiger-Nordwand?« Ich lachte.
    »Warte«, rief sie und kam mir nach. »Gehen wir zusammen«, schlug sie vor, und ich willigte ein. Zusammen sein, miteinander gehen. Wie albern. Paule aber meinte nur den Augenblick, wie es für sie immer nur den Augenblick, die Gegenwart, diesen einzigen jetzt stattfindenden Moment gab. Sie wollte nichts weiter, als mich ein Stück begleiten, während sie unentwegt auf mich einredete, ich irgendwann nur noch »Biwak« sagte und sie endlich verstummte.
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