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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Autoren: Beate Rothmaier
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ihr Rennrad, dass der weiße Rock hochflog und der schwarze Spickel ihres Höschens zu sehen war. Tief über den Lenker gebeugt, schlängelte sie sich zwischen den Autos der Freier hindurch. Ich sah die festen Muskeln ihrer Waden sich bewegen.
    »Doch ja, ich wandre gern«, rief ich ihr nach, und ohne sich noch einmal umzudrehen, hob sie die Faust mit hochgerecktem Daumen. Ein Augenblick der Verlorenheit, bevor Max mich in die Seite puffte, »was jetzt?«, und wir beschlossen, Geld zu ziehen und noch was zu trinken, der Zweiunddreißiger am Limmatplatz fuhr eh nicht mehr.
    Am darauffolgenden Montag in der Redaktion begegneten Max und ich uns, als wäre nichts geschehen, keiner von uns erwähnte Paule, und so sah ich sie nicht wieder. Manchmal dachte ich an sie, genau genommen ziemlich oft, und dann geriet ich in einen unruhigen Zustand aus Euphorie und Panik, ein Gehetztsein, das ich für Geilheit hielt, es war aber Verliebtheit, auf jeden Fall extrem aufreibend. Auch deshalb fragte ich Max nicht weiter nach ihr, sondern beschränkte mich aufs Sachliche, auf die Arbeit an der nächsten Ausgabe der Postille. Die Verkaufszahlen waren eingebrochen, die Abonnements weggeschmolzen. Die Rüdisüli schreckte uns mit der Nachricht auf, dass der Hauptsponsor, eine Limonadenfirma in der Westschweiz, das Budget um zwei Drittel gekürzt hatte und prognostizierte dem Blatt eine düstere Zukunft, es sei denn, wir fänden einen Aufmacher, der uns rettete und neue Sponsoren bringen würde. Erst vor wenigen Monaten war die offene Drogenszene auf dem Platzspitz vom Statthalter in einem autokratischen Akt geschlossen worden, und die Szene hatte sich in die Nähe der Redaktion auf den stillgelegten Bahnhof Letten verlagert, wo ich abends die Kleindealer mit ihren Einkaufswagen am Limmatufer entlangrennen sah auf der Flucht vor der Polizei. Süchtige standen herum und verkauften sich für den nächsten Schuss, andere stocherten sich mit heruntergelassenen Hosen, auf dem Boden liegend oder im Gras kauernd, mit der Spritze in den Leisten oder der Halsgrube herum. Das Thema war durch. Fürs Erste. So beschäftigten wir uns mit der abflauenden Europabegeisterung, die später in einem Desaster für Politik und Wirtschaft enden sollte, als das Stimmvolk den Beitritt zum EWR mit hauchdünner Mehrheit ablehnte. Katerstimmung im Land. Die Schweizerische Volkspartei sollte in kurzer Zeit zur stärksten politischen Kraft werden, und sie brachte die Stimmberechtigten dazu, nicht nur die Teilnahme an den Blauhelmaktionen der UNO abzulehnen, sondern immer wieder auch für die Verschärfung der Asyl- und Ausländergesetze bis hin zum Verbot neuer Minarette zu stimmen. Plakate tauchten auf, die Messerstecher aus dem Kosovo zeigten und zu Krallen gekrümmte Hände, die gierig in eine Kiste voller Schweizer Pässe griffen, schreiende Schreckgestalten, die vor dem Schengenraum warnten, weiße Schafe, die ein schwarzes mit Huftritten aus der Schweiz beförderten.
    Um dem schleichenden Gefühl des Eingeschlossenseins zu entkommen, um Paule aus dem Kopf zu kriegen, arbeitete ich am Skript für meinen neuen Comic und fuhr nach Brüssel, um ein paar Leute zu treffen, die ich im Januar beim Comicsalon in Angoul ê me kennengelernt hatte. Als ich nach ein paar Wochen in die Schweiz zurückkam, war Max stinksauer, weil er und Heini das Sommerheft allein hatten fertigstellen müssen. Ich ließ mich nicht stressen, erschien weiterhin jeden zweiten Tag in der Redaktion, jobbte beim Fliegenden Harrass, einem Getränkelieferanten, als Fahrer und vertiefte mich in das, was ich für das größte Menschheitsproblem der Zeit hielt: den Kern. Genauer die Manipulationen am Atomkern und am Zellkern.
    Spaltung und Sequenzierung als folgenschwerste Eingriffe in naturgegebene Strukturen. Spaltung des Atomkerns, massenhafte Bombentests, unkontrollierte Sprengungen, Kriegseinsatz – keine Generation vor oder nach uns war unter einem radioaktiven Fallout dieses Ausmaßes aufgewachsen. Bikiniatoll, wo war das schon. Tatsächlich waren wir als Kleinkinder einer Strahlenbelastung ausgesetzt gewesen, die den windverblasenen Fallout aus Tschernobyl um ein Vielfaches überstieg. Bevor ich mit dem Zeichnen anfing, war ich berufsmäßiger Antiatomkraftdemonstrant gewesen und von Wackersdorf nach Gorleben, von Whyl nach Grundremmingen getourt.
    Max fand mich hysterisch, sagte jedoch nichts, sondern schnurrte auf diese fast unsichtbare Weise in sich zusammen, verschrumpelte ein wenig, so
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