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Atlantis

Titel: Atlantis
Autoren: Stephen King
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wurde ihm immer noch warm ums Herz.
    Und da war noch eine andere Stimme. Als sie ertönte, spürte Bobby, wie ihm zum ersten Mal seit seiner Rückkehr Tränen in den Augenwinkeln brannten.
    Hätte nichts dagegen, Zauberer zu werden, wenn ich groß bin, Bobby, weißt du? So mit’nem Jahrmarkt oder’nem Zirkus rumziehen, mit schwarzem Anzug und Zylinder …

    »Und Kaninchen und allen möglichen Scheiß aus dem Hut ziehen«, sagte Bobby und wandte sich von Platz B ab. Er lachte, wischte sich die Augen und fuhr sich dann mit einer Hand über den Kopf. Keine Haare mehr da oben; die letzten hatte er vor ungefähr fünfzehn Jahren termingerecht verloren. Er ging über einen der Wege (1960 noch ein Kiesweg, jetzt Asphalt mit kleinen Schildern daneben, auf denen NUR FÜR RADFAHRER - FÜR INLINESKATER VERBOTEN! stand) und setzte sich auf eine der Bänke, vielleicht auf dieselbe wie an jenem Tag, als Sully ihn gefragt hatte, ob er ins Kino mitkommen wolle, und Bobby abgelehnt hatte, weil er stattdessen Herr der Fliegen zu Ende lesen wollte. Er stellte die Sporttasche neben sich auf die Bank.
    Direkt vor ihm war ein Wäldchen. Bobby war sich ziemlich sicher, dass Carol ihn damals in dieses Wäldchen geführt hatte, als er in Tränen ausgebrochen war. Das hatte sie getan, damit niemand sah, dass er wie ein Baby flennte. Niemand außer ihr. Hatte sie ihn in die Arme genommen, bis er sich ausgeweint hatte? Er wusste es nicht mehr genau, aber er glaubte es. Deutlicher erinnerte er sich daran, wie die drei Jungs von St. Gabe’s sie beide später fast verprügelt hätten. Die Freundin von Carols Mutter hatte sie damals gerettet. Er konnte sich nicht an ihren Namen erinnern, aber sie war gerade noch rechtzeitig gekommen … so wie der Bursche von der Marine am Ende von Herr der Fliegen gerade rechtzeitig gekommen war, um Ralph zu retten.
    Rionda hat sie geheißen. Sie hat ihnen erklärt, sie würde es dem Priester erzählen, und der Priester würde es ihren Eltern sagen.
    Aber Rionda war nicht in der Nähe gewesen, als diese Jungs Carol erneut gestellt hatten. Wäre Carol in Los Angeles
verbrannt, wenn Harry Doolin und seine Freunde sie in Ruhe gelassen hätten? Man konnte es natürlich nicht mit Sicherheit sagen, aber Bobby dachte, dass die Antwort wahrscheinlich Nein lautete. Und selbst jetzt spürte er, wie seine Hände sich zu Fäusten ballten, als er dachte: Aber ich hab dich gekriegt, Harry, stimmt’s? Ja, tatsächlich.
    Aber da war es schon zu spät gewesen. Da hatte sich schon alles geändert.
    Er zog den Reißverschluss der Sporttasche auf, wühlte darin herum und brachte ein Batterieradio zum Vorschein. Es war auch nicht annähernd so groß wie der Ghettoblaster, der gerade an ihm vorbei zu den Geräteschuppen getragen worden war, aber groß genug für seine Zwecke. Er brauchte es nur einzuschalten; es war bereits auf WKND eingestellt, Southern Connecticuts Home of the Oldies, den Ort in Südconnecticut, wo die Oldies zu Hause waren. Troy Shondell sang »This Time«. Das war Bobby recht.
    »Sully«, sagte er und schaute in das Wäldchen, »du warst ein echt cooler Saftsack.«
    Hinter ihm sagte eine Frau sehr geziert: »Wenn du fluchst, geh ich nicht mit dir.«
    Bobby fuhr so schnell herum, dass ihm das Radio vom Schoß fiel und im Gras landete. Er konnte das Gesicht der Frau nicht sehen; sie war nur eine Silhouette, zu deren beiden Seiten sich der rote Himmel wie ein Paar Flügel ausbreitete. Ihm stockte der Atem. Er versuchte zu sprechen, bekam aber kein Wort heraus. Die Zunge klebte ihm am Gaumen. Ganz weit hinten in seinem Kopf sagte eine nachdenkliche Stimme: So ist das also, wenn man einen Geist sieht.
    »Ist alles in Ordnung mit dir, Bobby?«

    Sie bewegte sich schnell, kam um die Bank herum, und dabei traf ihn die rote, untergehende Sonne voll in die Augen. Er roch Parfüm … oder war es Sommergras? Er wusste es nicht. Und als er die Augen wieder aufmachte, konnte er immer noch nicht mehr sehen als den Umriss der Frau; wo ihr Gesicht hingehörte, war ein anhaltendes grünes Nachbild der Sonne.
    »Carol?«, fragte er. Seine Stimme war heiser und unsicher. »Lieber Gott, bist du das wirklich?«
    »Carol?«, sagte die Frau. »Ich kenne keine Carol. Mein Name ist Denise Schoonover.«
    Aber sie war es. Als er sie zum letzten Mal gesehen hatte, war sie gerade mal elf gewesen, aber er wusste es. Er rieb sich wie wild die Augen. Aus dem im Gras liegenden Radio ertönte die Stimme des DJs: »Hier ist WKND, wo Ihre
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