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Atlantis

Titel: Atlantis
Autoren: Stephen King
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letzten langen Blick auf das Haus, in dem er mit seiner Mutter bis zum August 1960 gewohnt hatte, machte sich Bobby wieder auf den Weg den Broad Street Hill hinunter, wobei er die Sporttasche in einer Hand hin und her schwingen ließ.
    Über jenem Sommer hatte ein Zauber gelegen, daran zweifelte er auch im Alter von fünfzig Jahren nicht, aber er wusste nicht mehr, was für eine Art Zauber das gewesen war. Vielleicht hatte er nur die gleiche Ray-Bradbury-Kind-heit gehabt, die so viele Kleinstadtkinder auch gehabt hatten oder das zumindest glaubten; jene Art von Kindheit, in der die reale Welt und die Traumwelt sich manchmal überschnitten und eine Art Zauber hervorbrachten.
    Ja, aber … na ja …
    Da waren natürlich die Rosenblätter, die Carol an ihn weitergeleitet hatte … aber hatten sie etwas bedeutet? Früher einmal war es ihm so erschienen - dem einsamen, beinahe verlorenen Jungen von damals war es so erschienen -, aber die Rosenblätter waren längst fort. Er hatte sie ungefähr zur selben Zeit verloren, als er das Foto dieses niedergebrannten Hauses in Los Angeles gesehen und begriffen hatte, dass Carol Gerber tot war.
    Ihr Tod machte nicht nur die Vorstellung eines Zaubers zunichte, sondern in Bobbys Augen auch den Zweck der Kindheit selbst. Was für einen Sinn hatte sie, wenn sie zu solchen Dingen führte? Schlechte Augen und schlechter Blutdruck waren eine Sache; schlechte Ideen, schlechte Träume und schlechte Ziele waren etwas anderes. Nach einer Weile wollte man zu Gott sagen, ach, komm schon, Großer, hör auf damit. Man verlor seine Unschuld, wenn man erwachsen
wurde, na schön, das wusste jeder, aber musste man auch die Hoffnung verlieren? Was für einen Sinn hatte es, mit elf ein Mädchen auf dem Riesenrad zu küssen, wenn man elf Jahre später die Zeitung aufschlug und erfuhr, dass sie in einem verwahrlosten kleinen Haus in irgendeiner verwahrlosten kleinen Sackgasse verbrannt war? Was für einen Sinn hatte es, sich an ihre schönen erschrockenen Augen zu erinnern, oder daran, wie ihr Haar in der Sonne geschimmert hatte?
    All das und mehr hätte er noch vor einer Woche gesagt, aber dann hatte sich eine Ranke jenes alten Zaubers ausgestreckt und ihn berührt. Komm schon, hatte sie geflüstert. Komm schon, Bobby, na los, du Saftsack, komm heim. Und nun war er wieder in Harwich. Er hatte seinem alten Freund die letzte Ehre erwiesen, er hatte eine kleine Besichtigungstour durch die alte Stadt gemacht (und kein einziges Mal feuchte Augen bekommen), und jetzt war es fast Zeit, die Rückfahrt anzutreten. Zuvor wollte er jedoch noch einen letzten Zwischenstopp einlegen.
    Es war Abendessenszeit, und der Commonwealth Park war beinahe leer. Als Bobby zu dem Drahtnetz hinter der Home Plate von Platz B ging, kamen ihm drei verspätete Spieler entgegen. Zwei hatten ihre Sachen in großen roten Matchbeuteln; der dritte hatte einen Ghettoblaster dabei, aus dem in voller Lautstärke The Offspring dröhnten. Alle drei warfen ihm misstrauische Blicke zu, was Bobby nicht überraschte. Er war ein Erwachsener im Land der Kinder, und er lebte in einer Zeit, in der so jemand wie er suspekt war. Er vermied es, alles noch schlimmer zu machen, indem er ihnen zunickte oder winkte oder gar etwas Dummes sagte wie Na, wie war das Spiel, Jungs? Sie gingen an ihm vorbei.

    Er stand da, die Finger in die Drahtrauten des Netzes gehakt, und sah zu, wie das späte rote Licht schräg aufs Gras im Außenfeld fiel und von der Anzeigetafel und den Schildern mit der Aufschrift BLEIBT IN DER SCHULE und WAS GLAUBT IHR, WARUM MAN ES SHIT NENNT reflektiert wurde. Und wieder verspürte er diesen atemlosen Zauber, dieses Gefühl, dass die Welt nur eine dünne Lackschicht über etwas anderem war, etwas Hellerem und zugleich Dunklerem. Die Stimmen waren jetzt überall, wirbelnd wie die Linien auf einem Kreisel.
    Sag nicht zu mir, ich sei dumm, Bobby-O.
    Sie sollten Bobby nicht schlagen, er ist nicht wie diese Männer.
    Ein richtiges Engelchen war er, mein Kleiner, er hat immer so einen Song von Jo Stafford gedrückt.
    Es ist ka … und ka heißt Schicksal.
    Ich liebe dich, Ted.
    »Ich liebe dich, Ted.« Bobby sprach die Worte aus, ohne sie zu deklamieren, aber er flüsterte sie auch nicht gerade. Er probierte, ob sie ihm noch passten. Er konnte sich nicht einmal erinnern, wie Ted Brautigan ausgesehen hatte, jedenfalls nicht mehr so richtig (nur die Chesterfields und diese ewigen Flaschen Rootbeer sah er noch vor sich), aber bei diesem Satz
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