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Aschenwelt

Aschenwelt

Titel: Aschenwelt
Autoren: Timon Schlichen Majer
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wie es dick und unaufhaltsam über den Boden zu mir kroch. Und ich sah ihre leblosen Augen, die in die Unendlichkeit blickten und für immer diesen ungläubigen Ausdruck behalten würden; überrascht von dem, was mit ihr geschehen war. Diese Bilder gingen mir nicht mehr aus dem Kopf.
    Immer wieder stellte ich mir vor, wie ich zu ihr ging, sie küsste und sie daraufhin wieder zum Leben erwachte, als wäre alles nur ein Spiel gewesen oder ein böser Traum. Aber das war es nicht. Es war die kalte und brutale Wirklichkeit.
    Ich hätte es verhindern können. Diese Überzeugung wuchs von Tag zu Tag. Ich hätte mich vor sie werfen können. Ich hätte sie einfach bei mir im Bett festhalten können, die Schule schwänzen. Ich hätte mit ihr in die Stadt gehen können. Aber wir gingen in die Schule. Wie jeden Tag. Nur dass jener Tag nicht wie jeder werden sollte. Doch niemand konnte das wissen. Das war der Tag, an dem das Grauen nicht nur in meine Welt platzte, sondern auch meine Stadt bis ins Tiefste erschütterte. Und es sollte sie nie wieder ganz verlassen. Dieser Tag war für immer in das Gedächtnis der Stadt eingebrannt.
    Während dieser Zeit bekam ich regelmäßig Besuch. Jeden Tag kamen abwechselnd mein Vater, meine Mutter und Kevin vorbei. Aber ich nahm sie, wenn überhaupt, nur am Rande wahr. Mein Blick war an die Decke geheftet, und meine Gedanken kreisten immer um das gleiche. Ich versuchte, während der Besuch da war, nicht zu weinen, um es hinterher umso heftiger zu tun.
    Mein Vater schaute stets nur kurz herein, sagte hallo, organisierte ständig irgendetwas, dass ich genug zu trinken hatte, dass ausreichend gelüftet wurde, kommandierte die Pfleger und Schwestern herum. Eine Last schien von ihm abgefallen zu sein. So stocksteif und still er bisher gewesen war, so lebendig und arbeitsam präsentierte er sich jetzt. Kevin erzählte von der umgebauten Schule, wie endlich alles wieder seinen normalen Gang ging, von allen interessanten Ereignissen in der Stadt. Und meine Mutter saß nur stumm an meinem Bett und hielt meine Hand. Stundenlang. Und ich ließ es zu. Sie schien die einzige zu sein, die wusste, was ich wirklich brauchte. Nämlich nur Ruhe, und ganz vielleicht mal jemanden, mit dem ich sprechen konnte, aber nur, wenn ich das wollte. Und in diesen Tagen war es auch, dass sich etwas zwischen meiner Mutter und mir veränderte. Auch wenn es noch lange dauern sollte, bis wir endlich so etwas wie ein normales Mutter-Tochter-Verhältnis entwickelten.
    Uschasnik besuchte mich ebenfalls jeden Tag und stellte mir Fragen. Ich gab ihm jedoch keine Antwort, und er schien sich jeden Tag größere Sorgen um mich zu machen. Ich hatte mir vorgenommen, nie wieder ein Wort mit ihm zu wechseln. Er hatte mir versprochen, dass die Aschenwelt und die Teufel weg seien, sobald es mir gelungen wäre, an die vergrabene Erinnerung heranzukommen. Und nun war Anne tot und für alle Zeiten verschwunden. Aber die Aschenwelt und die Teufel waren immer noch da. Jede Nacht. Und ich war so schwach, dass es mir nicht mehr gelang, das Flammenschwert herbeizuwünschen. Jede Nacht fingen die Teufel mich, ohne dass ich auch nur den Versuch unternahm, mich zu wehren. Sie hängten mich an das Metallgestänge, lachten mich aus und tranken mein Blut. Und jeden Morgen wachte ich leer und ermattet auf, und nach jedem Albtraum verfluchte ich Uschasnik, mein Schicksal und das Leben. Mein Leben war zerstört, ich lag am Boden und wusste nicht, wie ich jemals wieder aufstehen sollte, wie ich jemals wieder ein normales Leben führen sollte – ohne Anne. Es ergab keinen Sinn ohne sie. Ich konnte nicht mehr Fernsehen, ich konnte keine Musik mehr hören, kein einziges Bild mehr malen. Nur daliegen und an die Decke starren. Ich verweigerte jedes Essen, ich hatte auch keine Kraft dazu, und magerte so sehr ab, dass sie mir schließlich einen Arm festbanden und eine Infussion legten, die ich nicht entfernen konnte. Zwangsernährung. Sie hatten Angst um mich. Ich nicht. Ich wollte nicht mehr leben. Nicht so. Nicht ohne Anne. Und nicht mit der Aschenwelt und den Teufeln, die mich jede Nacht heimsuchten.
    Ich dachte immer häufiger daran, mich umzubringen, dachte mir die verschiedensten Methoden aus. Ich könnte mich aus dem einzigen Fenster auf diesem Stock, das nicht vergittert war, stürzen. Das war draußen auf dem Flur. Im Schwesternzimmer gab es genug
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