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Aschenwelt

Aschenwelt

Titel: Aschenwelt
Autoren: Timon Schlichen Majer
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Kissen, zog die Decke über ihren Kopf und versuchte krampfhaft, das Schwindelgefühl wegzuatmen.
    Sie hörte, wie Nadeschda den Eimer wegbrachte und den Teppich säuberte. Sie sagte kein Wort, auch nicht, als sie den Eimer wieder neben Jos Bett stellte. Danach war Stille. War Nadeschda wieder gegangen oder noch hier?
    Jo hörte Geschirrklappern aus der Küche und gedämpfte Stimmen. Vorsichtig zog sie die Decke von ihrem Gesicht. Sie war alleine. Sie war erleichtert.
    Was soll ich mit ihr reden?
    Du traust dich nicht einmal, ihr in die Augen zu schauen.
    Ich bin nicht feige! Damit hat das nichts zu tun! Ich hab nichts getan, wofür ich mich schämen müsste. Im Gegensatz zu ihr!
    Sie hat auch nichts getan.
    Sei still, ich hab Kopfschmerzen. Und mir ist schlecht. Sei einfach still.
    Â»Alles in Ordnung, Johanna?« Ihre Mutter schaute zur Tür herin.
    Â»Ja ja«, antwortete Jo.
    Â»Hast du Hunger? Nadeschda und ich haben etwas gekocht.«
    Â»Nein.«
    Ich hab Hunger!
    Sei still.
    Â»Wenn du etwas magst, meldest du dich?«
    Â»Mal sehn.«
    Sei nicht so schlecht gelaunt!
    Lass mich in Ruhe.
    Warum? Niemand hat dir etwas getan. Ist dir das schon einmal aufgefallen?
    Sei still.
    Sei still, sei still – kennst du auch noch etwas anderes?
    SEI STILL!
    Nadeschda leerte auch den nächsten Eimer. Sie legte Jo ein kühles Tuch auf die Stirn und hielt ihre Hand. Jo ließ es geschehen, obwohl die eine Stimme in ihr fortwährend schrie und zeterte. Nadeschdas Hand tat gut. Und ihre Nähe.
    Wie geht es ihr eigentlich?
    Wie soll es ihr gehen! Gut natürlich! Sie ist ja kein Junkie so wie du.
    Jo seufzte tief. Nadeschda hielt ihre Hand fester. Darüber schlief Jo ein.
    Als sie wieder die Augen aufschlug, saß ihre Mutter an ihrem Bett. Sie lächelte.
    Â»Du siehst glücklich aus«, bemerkte Jo.
    Â»Das bin ich«, sagte ihre Mutter.
    Jo gähnte. Ihr Kopf hämmerte.
    Â»Schau mal«, sagte ihre Mutter.
    Â»Was?«
    Â»Schau einfach her, was ich hier habe.«
    Jo schaute. Und ihr Herz machte einen Paukenschlag, der sie augenblicklich hellwach sein ließ.
    Â»Wo … wo hast du ihn her?«
    Â»Gefunden«, sagte ihre Mutter. »Als Nadeschda und ich den Dachboden aufgeräumt haben. Das war dringend nötig. Nach hundert Jahren oder so.« Ihre Mutter lachte und warf dabei ihren Kopf in den Nacken. »Aber jetzt nimm ihn. Ist doch deiner. Und so lange, wie er einsam da oben in einer Ecke gelegen hat …«
    Jo nahm ihren Stoffhasen, zögerlich und sachte, als sei er aus dünnem Glas.
    Â»Hermann«, sagte sie. »Wo hast du bloß gesteckt?«
    Und dann stürzte, ohne Vorwarnung, ein Tränenmeer aus ihr heraus. All ihre angesammelte Trauer erschien mit einem Mal und brach sich Bahn. Sie erinnerte sich, allein beim Anblick ihres Stoffhasen, an alle Schmerzen ihres Lebens gleichzeitig. Sie sah ihr Pferd an dem Tag, an dem sie es bekam, sah es, wie es ich freute, wenn sie zu ihm in den Stall kam, mit ihm ausritt. Sie sah ihre Oma, wie sie bei einem Glas Wein Geschichten erzählte und dabei lachte, als gäbe es nur Fröhlichkeit und Schönheit im Leben. Sie sah ihren Vater. Er saß an ihrem Kinderbett und las ihr eine Geschichte vor. Und sie lauschte ihm gebannt. Und dann lag er, nur noch ein Schatten seiner selbst, in seinem Krankenbett und versank in seinem Kissen, verblasste, schwand dahin. – Anne. Ein Sonnenstrahl, der auf die Erde traf und zum Mensch wurde. Sie tanzte am Strand, ihr Kleid wehte um sie, ihr Lachen vermischte sich mit dem Rauschen der Wellen und schwebte in Jos Ohr. Anne rannte an der Brandung entlang und lachte, wenn die Gischt ihr ins Gesicht sprühte. Jo versuchte, mit ihr Schritt zu halten, sie einzuholen. Aber sie schaffte es nicht. Ein Schatten legte sich über sie. Anne verschwand. Dafür tauchte in der Ferne Nadeschda auf. Sie wartete auf sie.
    Jos Mutter setzte sich zu ihr aufs Bett und hielt ihren Kopf in ihrem Schoß. Jo weinte. Sie weinte so lange, bis ihre Tränen irgendwann versiegten. Ihre Mutter reichte ihr ein Taschentuch nach dem anderen. Danach ging es ihr besser. Und mit ihrem tränennassen Stoffhasen im Arm schlief sie wieder ein.
    Es war wohl der nächste Morgen, oder auch der übernächste oder noch einer später. Beschwören wollte Jo nichts, die Drogen raubten einem oftmals mehrere Tage. Die Bäume draußen rauschten im Wind. Es regnete. Jo zog ihre
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