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Aschenwelt

Aschenwelt

Titel: Aschenwelt
Autoren: Timon Schlichen Majer
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Decke enger um sich. Es war wie früher. Draußen Wind und Regen, drinnen ihr warmes Bett, mit Hermann unter der Decke.
    Es klopfte. Sie antwortete nicht. Es klopfte abermals. Etwas drängender.
    Â»Ja?«
    Die Tür öffnete sich. Zaghaft und langsam.
    Â»Hey, Kevin«, sagte Jo.
    Â»Hey«, sagte Kevin. »Wie geht’s?«
    Â»Keine Ahnung.«
    Â»Darf ich reinkommen?«
    Â»Klar.«
    Kevin zog einen Stuhl an ihr Bett und setzte sich. Sein Mund lächelte, seine Augen nicht.
    Â»Tut mir leid«, sagte er.
    Â»Dir muss nichts leid tun«, sagte Jo. »Gar nichts. Du hast alles richtig gemacht.«
    Kevin nickte und schwieg.
    Â»Was machst du die Tage?«, fragte Jo.
    Â»Ich war hier. Tag und Nacht«, sagte Kevin.
    Jo schaute ihn verblüfft an. »Und warum kommst du erst jetzt zu mir?«
    Â»Ich hab deiner Mutter und Nadeschda den Rücken freigehalten, während sie dich versorgt haben.«
    Â»Aha«, sagte Jo.
    Â»Geht’s dir gut?«
    Â»Irgendwie ja – keine Ahnung.«
    Kevin lächelte und tätschelte ihr kurz den Arm. »Dann ist gut.« Er stand auf. »Ich muss wieder. So viel Arbeit. Einfach zu groß dieses Haus.« Er lachte kurz und ließ sie wieder alleine.
    Jo lag eine ganze Weile im Bett, stierte an die Decke und dachte an gar nichts. Bis sie das Bedürfnis verspürte, aufzustehen. Und zwar richtig aufzustehen, nicht nur, um auf die Toilette zu gehen.
    Sie wickelte sich in ihren Morgenmantel und steckte Hermann in das Gürtelband. Wie früher.
    Aus der Küche drangen Geräusche. Es duftete nach Kaffee. Himmlisch. – In der Küche war nur eine Person. Nadeschda. Jo zögerte kurz unter dem Türrahmen und ging dann doch hinein.
    Nadeschda lächelte ihr zu. »Kaffee?«
    Jo nickte.
    Â»Setz dich, ist gleich fertig.«
    Jo setzte sich an den Küchentisch und beobachtete Nadeschda, wie sie Kaffee machte und gleichzeitig noch an anderen Sachen herumwerkelte.
    Der Kaffee war bald fertig. Nadeschda servierte Jo ihren und setzte sich mit einer eigenen, dampfenden Tasse ihr gegenüber.
    Schweigend tranken sie. Und von Zeit zu Zeit begegneten sich ihre Blicke. Bei jedem Blickkontakt floss ein warmer Strom durch Jos Brust, der sogleich wieder erlosch, wenn Nadeschdas Augen weiterwanderten.
    Jo trank Schluck um Schluck ihre Tasse leer. Sie saßen sich noch eine Weile gegenüber.
    Â»Ich brauch noch Zeit«, sagte Jo schließlich.
    Nadeschda nickte und schaute in ihre Tasse.
    Jo ging wieder ins Wohnzimmer zurück.
    Zeit wofür?
    Du weißt es.
    Nein, weiß ich nicht.
    Sei still.
    Jo setzte sich in den Sessel ihres Vaters und schaute dem Regen zu, wie er in dünnen Schnüren auf die bunten Blätter der Bäume fiel und die Erde durchnässte. Einige Tropfen waren stark genug, um die verwelkten Blätter von ihren Ästen zu lösen. Sie segelten zu Boden und bedeckten das Gras, deckten es warm zu, damit bald der Schnee kommen konnte, wenn er wollte. Und die Äste waren befreit von ihrer Last und bereit, im nächsten Frühling erneut auszuschlagen und das Leben in die Welt zurückzubringen. Alles hatte seinen Sinn, alles seinen Zweck, überall verging etwas und entstand etwas neues, fortwährend und immerzu, ohne Anfang, ohne Ende.
    Nur du zerstörst alles. Hörst du? Du erschaffst nichts. Du machst nur kaputt. – Antworte mir gefälligst! Du lässt für dich arbeiten. Die ganze Welt dreht sich nur um dich. Alle kümmern sich um dich. Alle müssen sich um dich kümmern! Sie geben ihr Leben auf, nur damit es dir gut geht. Und was tust du? Für sie? Du beschimpfst sie. Du verachtest sie. Du benutzt sie.
    Jo erhob sich aus dem Sessel und ging zu ihrem Bett. Dort, auf einem kleinen Tischchen, lag ihr Füller und ihr Buch.

    Tagelang, vielleicht waren es sogar Wochen, lag ich in meinem Bett und stand nur auf, um auf die Toilette zu gehen. Ich aß nichts, ich sprach nichts und ich malte nichts. Ich versuchte, all das zu verstehen, was über mich hereingebrochen war, auch wenn es da gar nichts zu verstehen gab. Die stillen Phasen, in denen mein Gehirn wie leergefegt war und ich nur die weiße Decke über mir sah, wechselten sich mit jenen ab, in denen mich Weinkrämpfe wie Tsunamis durchwühlten. Warum Anne? Warum nicht ich! Warum. Warum. Warum! Immer wieder sah ich das Bild von Anne vor mir, wie sich ihr Blut auf ihrem weißen Kleid ausbreitete und
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