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Artikel 5

Artikel 5

Titel: Artikel 5
Autoren: Kristen Simmons
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verging ohne eine Antwort.
    Während wir warteten, ertappte ich Chase dabei, wie er mich beobachtete. In seinem Blick lauerten keine Geheimnisse mehr. Stattdessen war er klar und aufrichtig und so tief wie ein Bergsee. Ich wanderte mit den Fingerspitzen über seine hohen Wangenknochen und sah zu, wie die Falten zwischen seinen Brauen schwächer wurden, als sich das Pochen in seinem Kopf legte und er endlich Frieden fand und die Augen schloss.
    »Eine Stunde«, ertönte die Antwort so überraschend, dass ich zusammenzuckte. Ich kannte die Stimme. Sie gehörte einem drahtigen Mann mit fettigem, grau meliertem Haar und einem Schnurrbart.
    Chase nickte zustimmend. Er hatte Wallace gebeten, uns zu helfen. Nun würden wir ins Wayland Inn zurückkehren.
    Wir würden zum Widerstand zurückkehren.

Bis ich mit Wallace fertig war, graute beinahe der Morgen. Tiefe Erschöpfung ergriff Besitz von mir, eine von der Sorte, die tief in meine Knochen sickerte, bis sie sich weich und nachgiebig anfühlten, kaum mehr imstande, mein Gewicht zu tragen. In diesem Zustand schleppte ich mich die Treppen des Wayland Inn hinauf zu der Tür zum Dach und hinaus in die kühle, dunkle Nacht.
    Wallace persönlich hatte sich bei unserer Rückkehr um Chases Verletzungen gekümmert. Der Anführer des Widerstands, einst Sanitäter des FBR , erklärte mir, dass ich auf eine mögliche Pupillenerweiterung achten und wie ich mit anderen Symptomen einer Gehirnerschütterung umgehen sollte. Schließlich hatte ich Chase in ein leeres Zimmer gebracht und in ein Bett mit einer mottenzerfressenen Daunendecke gesteckt. Ich hatte nur zehn Minuten warten müssen, bis er eingeschlafen war. Sean erzählte mir später, dass Chase da zum ersten Mal, seit ich verschwunden war, zur Ruhe gekommen war.
    Danach hatten Wallace und ich uns unterhalten. Ich hatte ihm alles erzählt, was ich von dem Stützpunkt in Erinnerung behalten hatte: Aufbau, Personal und all die Schrecken, die dort lauerten. Das alles erneut zu durchleben war schrecklich, aber zugleich reinigend. Nach einer stundenlangen, mitfühlenden, aber hartnäckigen Befragung kam ich mir leer vor.
    Später wollten wir Strategien besprechen. Uns stand ein Kampf bevor, aber bis dahin war uns noch ein Moment des Friedens vergönnt; ein tiefer Atemzug vor dem Kopfsprung ins kalte Wasser.
    Da gab es noch etwas, das ich tun musste, ehe ich schlafen konnte. Ich musste den Himmel sehen.
    Ich ging zu einer alten Holzbank, die von der Ausgangstür aus gleich um die Ecke stand. Mein Körper sackte auf die verwitterten Bretter und bejubelte die Freiheit, die sich über meine Glieder senkte. Ich legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und fühlte, wie sich auch der letzte Rest der Klaustrophobie aus der Gefangenschaft verflüchtigte.
    Meine Mutter war fort, und mit ihr war das Kind gegangen, das ich einmal gewesen war. Sie war ein Opfer der Gewalt geworden, so wie meine Jugend, und an beider Platz war ein neues Ich erwacht, ein Mädchen, das ich bisher nicht gekannt hatte und das mir noch schmerzlich fremd war.
    Der Himmel hatte sich bereits pfirsichgelb und himbeerrot verfärbt, als die Tür zum Dach mit solcher Wucht aufgestoßen wurde, dass mir das Herz geradewegs in die Luftröhre schoss. Im Nu war ich auf den Beinen.
    Chases Haar war wirr, die Augen geweitet, wild und angefüllt mit Schmerz. Mein Herz pochte vor Liebe und Furcht, wie es die ganze Zeit für ihn geschlagen hatte. Erst als das erste Sonnenlicht auf die blauen Flecken an seinem Kinn fiel, dachte ich wieder daran zu atmen.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte ich ihn.
    Vorsichtig tat er einen Schritt voran. Mehrere Herzschläge lang geschah nichts. Nur sein Blick glitt auf sanfte, vertraute Art über mein Gesicht, und für einen Moment vergaß ich, dass ich mich so leer und verloren fühlte. Für ihn war ich dasselbe Mädchen, das ich immer gewesen war. Das Mädchen, das er liebte.
    »Alles bestens. Sorry«, entschuldigte er sich. »Ich konnte dich nur nicht finden, und …« Er zuckte energisch mit den Schultern und sah dabei doch unerträglich verletzbar aus für so einen großen Menschen.
    Er hatte befürchtet, ich wäre erneut weggelaufen. Ich ließ mir das Haar ins Gesicht fallen, in der Hoffnung, dass es das schlechte Gewissen überdeckte, das erkennbar meine Wangen erhitzte.
    Ich nahm wieder Platz, und er setzte sich zu mir. Wir berührten uns nicht, und der Abstand zwischen uns war mir allzu bewusst, als er sich abwandte, um zuzusehen, wie die
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