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Artikel 5

Artikel 5

Titel: Artikel 5
Autoren: Kristen Simmons
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ich ging seither nicht mehr allein von der Schule nach Hause.
    Mich durften sie nicht holen. Ich musste auf meine Mutter aufpassen.
    Ich war fertig mit meiner Suche. Keine Katelyn Meadows. Nicht in dieser Woche.
    »Hast du das von Mary Wie-heißt-sie-noch gehört?«, fragte Beth, als wir unseren Weg zu mir nach Hause fortsetzten. »Ich glaube, sie ist in der Zehnten.«
    »Mal überlegen, Mary Wie-heißt-sie-noch«, sagte Ryan nachdenklich und schob seine Brille auf seiner schmalen Nase hoch. In seiner Uniformjacke wirkte er streberhaft, wogegen die anderen Jungs in der Schule immer so aussahen, als hätten ihre Mütter sie für Ostersonntag herausgeputzt.
    »Nein, was ist mit ihr?« Ein kalter Schauer jagte mir über die Haut.
    »Das Gleiche wie mit Katelyn. Die Moralmiliz hat sie abgeholt, um sie vor Gericht zu stellen, und jetzt hat sie seit einer Woche niemand mehr gesehen.« Bess sprach leise, so wie immer, wenn sie fürchtete, jemand könnte lauschen.
    Mir wurde übel. Moralmiliz war nicht der offizielle Name, aber er passte. Eigentlich gehörten die uniformierten Soldaten zum Federal Bureau of Reformation – dem Teil des Militärs, den der Präsident nach dem Ende des Krieges vor drei Jahren gegründet hatte. Ihre Aufgabe war es, die Befolgung der Moralstatuten durchzusetzen, um das Chaos zu unterbinden, das während der fünf Jahre geherrscht hatte, in denen Amerika gnadenlos attackiert worden war. Die Konsequenzen waren hart: Jeder Verstoß gegen die Statuten führte zu einer Vorladung und im schlimmsten Fall zu einer Verhandlung vor dem FBR -Gremium. Leute, denen der Prozess gemacht wurde – so wie Katelyn –, kamen üblicherweise nicht zurück.
    Dazu kursierten die verschiedensten Theorien. Gefängnis. Deportation. Vor ein paar Monaten hatte ich miterlebt, wie ein verrückter Obdachloser etwas über Massenexekutionen plapperte, ehe man ihn weggekarrt hatte. Doch die Realität war auch ungeachtet der Gerüchte trostlos. Mit jedem neuen Statut wurde die MM mächtiger und selbstgerechter. Daher der Spottname.
    »Einen aus der Neunten haben sie aus dem Sportunterricht geholt«, sagte Ryan in ruhigem Ton. »Ich habe gehört, sie haben ihm nicht mal erlaubt, seine Uniform wieder anzuziehen.«
    Erst Katelyn Meadows, nun Mary Irgendwas und ein Junge. Und Mary und den Jungen hatte es innerhalb der letzten zwei Wochen erwischt. Ich erinnerte mich noch an die Zeit, in der die Schule ein sicherer Ort gewesen war – der einzige Platz, an dem wir nicht an den Krieg denken mussten. Heute schwänzte niemand mehr die Schule. Es gab keinen Zank und keine Prügeleien. Sogar die Hausaufgaben wurden pünktlich abgegeben. Alle hatten Angst, ihre Lehrer könnten sie der MM melden.
    Als wir unsere leere Einfahrt betraten, schaute ich mich zum Nachbarhaus um. Ein kastenförmiger Bau, dessen weiße Außenverkleidung unter dem Einfluss von Staub und Regen fleckig geworden war. Die Sträucher im Garten waren verwildert und wuchsen über den Betonstufen zusammen. Lange, zarte Spinnengewebe hingen vom Dachüberstand herab. Es sah aus wie ein Spukhaus, und in gewisser Weise war es das auch.
    Das war sein Haus gewesen.
    Das Haus des Jungen, den ich liebte.
    Mit Bedacht wandte ich den Blick ab und stieg die Stufen zu unserer vorderen Veranda hoch, um meine Freunde hineinzulassen.
    Meine Mutter saß auf der Couch. Sie hatte mindestens vier Spangen zu viel im Haar und trug ein Shirt, das sie aus meinem Schrank geklaut hatte, aber das machte mir nichts aus. Die Wahrheit war, dass ich für Klamotten nicht viel übrig hatte. In einer Spendensammelstelle in einem Haufen getragener Kleidungsstücke herumzuwühlen, hatte nicht dazu beigetragen, mein Interesse am Shopping zu kultivieren.
    Was mir jedoch etwas ausmachte, war, dass sie ein Taschenbuch mit einem halb nackten Piraten auf dem Einband las. Das Zeug war heutzutage illegal. Wahrscheinlich hatte sie es von jemandem, der wie sie freiwillig in der Suppenküche aushalf. Die Einrichtung war gerammelt voll mit arbeitslosen Frauen, die ihre passiv-aggressive Schmuggelware unter der Nase der Moralmiliz verbreiteten.
    »Hi, Baby. Hi, Leute«, sagte meine Mutter, regte sich darüber hinaus aber kaum. Sie blickte nicht einmal auf, bis sie die Seite zu Ende gelesen hatte. Dann klemmte sie ein Lesezeichen zwischen die Seiten und stand auf. Ich hielt die Klappe wegen des Buchs, obwohl ich ihr vermutlich hätte sagen sollen, dass sie dieses Zeug nicht mit nach Hause bringen durfte. Aber die heimliche
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