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Artikel 5

Artikel 5

Titel: Artikel 5
Autoren: Kristen Simmons
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Lektüre machte ihr offensichtlich Freude, und es war immer noch besser, als wenn sie auf der Veranda las – was sie bisweilen tat, wenn sie besonders rebellisch gestimmt war.
    »Hi, Mom.«
    Sie küsste mich geräuschvoll auf die Wange und umarmte meine Freunde, beide auf einmal, ehe sie uns unseren Hausaufgaben überließ.
    Wir holten unsere großen, schweren Bücher hervor und fingen an, die mechanische Welt der Elementarmathematik zu entziffern. Das war eine furchtbare Arbeit – ich verabscheute Mathe –, aber Beth und ich hatten einen Durchhaltepakt geschlossen. Es gab Gerüchte, die besagten, dass Mädchen im nächsten Jahr keine Möglichkeit mehr hätten, Mathe zu belegen, also durchlitten wir unser Los in stiller Rebellion.
    Meine Mutter, die angesichts meiner Miene mitfühlend lächelte, tätschelte meinen Kopf und bot uns an, heiße Schokolade zu machen. Nach ein paar frustrierenden Minuten folgte ich ihr in die Küche. Sie hatte vergessen, ihren Ficus zu gießen, der nun jämmerlich die Blätter hängen ließ. Ich füllte in der Spüle ein Glas mit Wasser und schüttete es in den Topf.
    »Schlimmer Tag?«, fragte sie und löffelte Kakaopulver aus einer blauen Dose mit dem Bild eines Sonnenaufgangs auf der Vorderseite in vier Becher. Die Lebensmittelmarke Horizons gehörte der Regierung und war alles, was unsere Zuteilungen hergaben.
    Ich lehnte mich an den Küchentisch und scharrte mit dem Absatz auf dem Boden. Noch immer dachte ich über die beiden neuen Entführten und die Schmuggelware nach. Und über das leere Haus nebenan.
    »Mir geht’s gut«, log ich. Ich wollte meine Mutter nicht ängstigen, indem ich ihr von Mary Irgendwas erzählte, und ich wollte sie auch nicht wegen des Buchs ermahnen. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn ich sie mit den Regeln nervte. Manchmal war sie eben doch ein wenig dünnhäutig.
    »Wie war die Arbeit?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln. Die Suppenküche bezahlte sie nicht, trotzdem nannten wir es Arbeit, das half ihr, sich besser zu fühlen.
    Meine kaum zu übersehende Vermeidungsstrategie war ihr natürlich aufgefallen, aber sie ging darüber hinweg und fing an, mir eine lange Geschichte über Misty Irgendwas zu erzählen, die Kelly Irgendwas’ Freund aus der Highschool gedatet hatte, und … Ich machte mir nicht die Mühe, ihrem Redeschwall zu folgen. Ich nickte nur, und bald lächelte ich. Ihre Begeisterung war ansteckend. Als der Wasserkessel zu pfeifen begann, fühlte ich mich schon viel besser.
    Sie griff gerade nach den Bechern, als jemand an die Haustür klopfte. In der Annahme, dass es vermutlich Mrs Crowley von gegenüber war, die wie an jedem anderen Tag meine Mutter besuchen wollte, ging ich hin, um zu öffnen.
    »Ember, warte …« Die Furcht in Beth’ Stimme veranlasste mich, innezuhalten und mich zum Wohnzimmer umzudrehen. Sie kniete auf der Couch, eine Hand am Vorhang, und jegliche Farbe war aus ihrem sowieso schon recht blassen Gesicht gewichen.
    Aber es war zu spät. Meine Mom war an mir vorbeigegangen und hatte die Tür schon entriegelt und geöffnet.
    Zwei Soldaten der Moralmiliz standen auf den Stufen.
    Sie waren in voller Uniform gekommen: marineblaue Splitterschutzweste mit großen Holzknöpfen, passende Hose, die sich über den glänzenden Stiefeln bauschte. Das bekannteste Hoheitszeichen im ganzen Land, die amerikanische Flagge, die über einem Kreuz flatterte, prangte auf ihren Brusttaschen, gleich über den Buchstaben FBR . Jeder von ihnen hatte einen schwarzen Schlagstock, der zur Standardausrüstung zählte, ein Funkgerät und eine Schusswaffe am Gürtel.
    Einer der Soldaten hatte kurzes, braunes Haar, das an den Schläfen bereits grau wurde, und Fältchen an den Mundwinkeln, die ihn viel zu alt erscheinen ließen. Sein hagerer Kollege zupfte ungeduldig an seinem hellbraunen Schnurrbart.
    Enttäuscht ließ ich die Schultern hängen. Irgendwo in meinem Hinterkopf hatte ich gehofft, er wäre einer von ihnen, ein flüchtiger Augenblick der Schwäche, die mich stets beim Anblick einer Uniform befiel und für die ich mich am liebsten selbst getreten hätte.
    »Ms Lori Whittman?«, fragte der ältere Soldat, ohne ihr in die Augen zu sehen.
    »Ja«, antwortete meine Mutter zögerlich.
    »Ich brauche Ihren Ausweis.« Er machte sich nicht die Mühe, sich vorzustellen, aber auf seinem Namensschild stand BATEMAN . Der andere hieß CONNER .
    »Gibt es ein Problem?« Ein Hauch von Verachtung war in Moms Ton, und ich hoffte, dass sie ihn nicht
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