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Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George
Autoren: Julian Barnes
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keinerlei Kritik üben, also schwieg er. Aber es war Unsinn, so zu tun, als hätte die Mama keine bessere Partie machen können.
    »Und wenn das nicht geschehen wäre«, fuhr sie fort, wobei sie ihn mit ihren grauen Augen anlächelte, denen er nie den Gehorsam verweigern konnte, »dann hätte es nicht nur keinen Arthur gegeben, sondern auch keine Annette, keine Lottie, keine Connie, keinen Innes und keine Ida.«
    Das war unbestreitbar wahr und zugleich ein unlösbares metaphysisches Rätsel. Er wünschte, Partridge wäre da, um mit ihm die Frage zu erörtern: Kann ein Mensch er selbst bleiben, oder zumindest hinreichend er selbst, wenn er einen anderen Vater hätte? Wenn nicht, so folgte daraus, dass auch seine Schwestern nicht sie selbst geblieben wären, vor allem Lottie nicht, die er am liebsten hatte, obwohl Connie als die Hübschere galt. Selbst anders zu sein, konnte er sich gerade noch vorstellen, doch an Lottie konnte er auch unter Aufbietung all seiner Phantasie kein Jota ändern.
    Vielleicht hätte Arthur den Umgang der Mama mit den beschränkten Lebensumständen leichter hingenommen, wenn er nicht schon ihren ersten Zimmerherrn kennengelernt hätte. Bryan Charles Waller: nur sechs Jahre älter als Arthur, aber bereits approbierter Arzt. Noch dazu ein Dichter mit publizierten Werken und einem Onkel, dem Der Jahrmarkt der Eitelkeiten zugeeignet war. Arthur störte weder, dass der Bursche belesen, ja gelehrt, noch dass er ein glühender Atheist war; hingegen störte ihn die Art, wie dieser Zimmerherr viel zu ungezwungen und charmant durchs Haus ging. Wie er »Das ist also Arthur« sagte und ihm lächelnd die Hand reichte. Wie er anderen zu verstehen gab, er sei ihnen bereits einen Schritt voraus. Wie er seine zwei Londoner Anzüge trug und sich in allgemeinen Redensarten und Epigrammen erging. Wie er sich Lottie und Connie gegenüber verhielt. Wie er sich der Mama gegenüber verhielt.
    Auch Arthur gegenüber verhielt er sich ungezwungen und charmant, was bei dem großen, linkischen, störrischen, eben erst aus Österreich zurückgekehrten ehemaligen Schuljungen keinen Anklang fand. Waller tat, als verstünde er Arthur, selbst wenn Arthur sich offenbar selbst nicht verstand, wenn er an seinem eigenen Kamin stand und sich so albern vorkam, als wäre ein Bombardon zweimal um seinen Leib gewunden. Er hätte gern ein Protestgeschmetter angestimmt, vor allem, wenn Waller vorgab, ihm geradewegs in die Seele zu schauen und – was das Ärgerlichste war – das, was er dort fand, ernst und zugleich nicht ernst zu nehmen, wobei er immerfort lächelte, als wäre all die Verwirrung, die er dort erspähte, weder überraschend noch wichtig.
    Viel zu ungezwungen und charmant, diese Einstellung zum Leben, verdammt nochmal.

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George
    Solange George denken kann, hat es im Pfarrhaus immer ein Hausmädchen gegeben, das sich im Hintergrund hält und schrubbt, Staub wischt, poliert, den Kamin anzündet, die Feuerroste putzt und den Kessel aufsetzt. Etwa einmal im Jahr wechselt das Mädchen, weil die eine heiratet, die andere nach Cannock oder Walsall oder gar nach Birmingham zieht. George schenkt diesen Hausmädchen keine Beachtung, und jetzt, da er in Rugeley zur Schule geht und jeden Tag mit dem Zug hin und wieder zurück fährt, nimmt er sie erst recht nicht wahr.
    Er ist froh, der Dorfschule mit ihren dummen Bauernjungen und seltsam sprechenden Bergarbeiterkindern entronnen zu sein, und hat bald auch deren Namen vergessen. In Rugeley ist er im Allgemeinen mit den besseren Jungen zusammen, und die Lehrer halten Intelligenz für etwas Nützliches. Er kommt recht gut mit seinen Kameraden aus, selbst wenn er keine engen Freunde findet. Harry Charlesworth geht in Walsall zur Schule, und wenn sie sich jetzt begegnen, nicken sie einander nur zu. Für George zählen allein seine Arbeit, seine Familie und sein Glaube mitsamt den daran hängenden Pflichten. Für anderes wird später noch Zeit sein.
    Eines Samstagnachmittags wird George in das väterliche Studierzimmer gerufen. Auf dem Schreibtisch liegt eine große, aufgeschlagene Bibelkonkordanz neben einigen Aufzeichnungen für die Predigt am nächsten Morgen. Der Vater sieht so aus wie auf der Kanzel. George kann zumindest erraten, was die erste Frage sein wird.
    »George, wie alt bist du?«
    »Zwölf, Vater.«
    »Ein Alter, in dem man ein gewisses Maß an Klugheit und Besonnenheit erwarten kann.«
    George weiß nicht, ob das eine Frage ist oder nicht, darum bleibt er
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