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Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George
Autoren: Julian Barnes
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die Kräfte von George und Horace reichen nicht aus, Maud zu beschützen. Die Visiten des Doktors beginnen, und seine regelmäßigen Untersuchungen versetzen die Familie in Angst. George fühlt sich bei jedem Besuch des Arztes schuldig und hält sich verborgen für den Fall, dass er sich als die eigentliche Ursache der Krankheit seiner Schwester erweist. Horace hat solche Schuldgefühle nicht und will dem Arzt fröhlich die Tasche nach oben tragen.
    Als Maud vier Jahre alt ist, wird beschlossen, sie sei zu anfällig, um die ganze Nacht über allein zu bleiben, und ihre nächtliche Betreuung dürfe weder George noch Horace, ja nicht einmal beiden gemeinsam überlassen werden. Von nun an wird sie im Zimmer der Mutter schlafen. Zugleich wird beschlossen, dass George bei seinem Vater schläft und Horace im Kinderzimmer bleibt. George ist jetzt zehn und Horace sieben Jahre alt; vielleicht sieht man das Alter der Sündhaftigkeit herannahen, und die beiden Jungen dürfen nicht miteinander allein bleiben. Es wird keine Erklärung gegeben und auch keine verlangt. George fragt nicht, ob es eine Strafe oder eine Belohnung ist, dass er im Zimmer des Vaters schlafen soll. Es ist einfach so, und mehr ist dazu nicht zu sagen.
    George betet mit seinem Vater zusammen, wobei sie nebeneinander auf den gescheuerten Dielen knien. Dann legt George sich ins Bett, während sein Vater die Tür abschließt und das Licht löscht. Beim Einschlafen denkt George manchmal an den Fußboden und meint, seine Seele müsse ebenso gescheuert werden wie die Dielen.
    Der Vater hat keinen leichten Schlaf und gibt oft stöhnende und pfeifende Laute von sich. Manchmal, wenn sich in der Frühe die erste Morgenröte an den Vorhangrändern zeigt, wird George vom Vater katechisiert.
    »George, wo wohnst du?«
    »Im Pfarrhaus von Great Wyrley.«
    »Und wo liegt das?«
    »In Staffordshire, Vater.«
    »Und wo liegt das?«
    »In der Mitte von England.«
    »Und was ist England, George?«
    »England ist das lebendige Herz des Empire, Vater.«
    »Gut. Und was ist das Blut, das durch die Venen und Arterien des Empire strömt bis an das fernste Gestade?«
    »Die Kirche von England.«
    »Gut, George.«
    Und nach einer Weile setzt das Stöhnen und Pfeifen wieder ein. George sieht, wie die Konturen des Vorhangs schärfer werden. Er denkt an Venen und Arterien, die die Weltkarte mit roten Linien überziehen und Großbritannien mit allem verbinden, was dort rosarot gefärbt ist: mit Australien und Indien und Kanada und überall hingetupften Inseln. Er denkt an Röhren, die auf dem Meeresboden verlegt sind wie Telegraphenkabel. Er denkt an Blut, das durch diese Röhren rinnt und dann in Sydney, Bombay oder Kapstadt zum Vorschein kommt. Blutlinien, dieses Wort hat er irgendwo gehört. Während das Blut in seinen Ohren pulsiert, schläft er langsam wieder ein.

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Arthur
    Arthur bestand sein Examen mit Auszeichnung; doch da er erst sechzehn war, wurde er für ein weiteres Jahr zu den Jesuiten in Österreich geschickt. In Feldkirch lernte er ein milderes System kennen, das Biertrinken und geheizte Schlafsäle gestattete. Man unternahm lange Spaziergänge, bei denen die englischen Schüler neben einem deutschsprachigen Jungen gehen sollten, sodass sie gezwungen waren, deren Sprache zu sprechen. Arthur ernannte sich zum Redakteur und alleinigen Autor des Feldkircher An zeigers , einer handgeschriebenen Zeitschrift für Literatur und Wissenschaft. Er spielte auch Fußball auf Stelzen und lernte das Bombardon spielen, ein Instrument, das sich zweimal um den Brustkorb wand und einen Ton von sich gab wie beim Jüngsten Gericht.
    Bei seiner Rückkehr nach Edinburgh stellte er fest, dass sein Vater in einer Heilanstalt war und offiziell an Epilepsie litt. Es gab also kein Einkommen mehr, nicht einmal ab und zu ein paar Kupfermünzen für Aquarellbilder von Elfen. Darum war Annette, die älteste Schwester, bereits in Portugal, wo sie als Gouvernante arbeitete; Lottie würde ihr bald nachfolgen, und sie würden Geld nach Hause schicken. Der andere Ausweg der Mama war die Aufnahme von Logiergästen. Arthur fühlte sich dadurch beschämt und gekränkt: Es ging doch nicht an, dass seine eigene Mutter auf den Status einer Zimmerwirtin herabsank.
    »Aber Arthur, wenn niemand Logiergäste aufnähme, hätte dein Vater nie bei Großmutter Pack gewohnt, und ich wäre ihm nie begegnet.«
    Dies war für Arthur ein noch stärkeres Argument gegen Logiergäste. Er wusste, an seinem Vater durfte er
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