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Arkadien 01 - Arkadien erwacht

Titel: Arkadien 01 - Arkadien erwacht
Autoren: Kai Meyer
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Was Rosa gerade eben noch gedacht oder gefühlt hatte, war unwichtig geworden. Die Kreatur beherrschte ihr Denken und Empfinden. Nur sie und der Tiger. Nichts sonst.
    Seine Klauen waren so groß wie ihr Kopf. Seine muskulösen Hinterbeine breiter als ihr Oberkörper. Seine Fänge glänzten von Speichel, der sich in schwarzen Lefzen sammelte. Er roch wie eine Mannschaftskabine nach einem Footballspiel.
    Etwas war definitiv falsch. Sie wusste wenig über Europa und den Rest der Welt, doch dieser Anblick gehörte nicht hierher. Verwilderte Hunde und Hauskatzen, ja. Keine Tiger.
    Eine Welle lief durch seinen Körper. Er setzte zum Sprung an.
    Der Schwindel kehrte zurück, noch heftiger als bei ihrer Ankunft. Diesmal gab es keine glutheiße Karosserie, mit der sie sich Schmerzen zufügen konnte, um klar zu werden. Ein Traum, dachte sie. Ganz sicher nicht die Realität.
    Sie wankte, drohte zu stürzen, hörte eine Stimme. Zoes Stimme. Von irgendwoher rief sie Rosas Namen.
    Ich bin hier, dachte sie.
    Ich und der Tiger.
    Aber dann klärte sich ihr Blick und sie war allein, und was immer dort vor ihr gestanden hatte, war fort. Ein paar Olivenblätter rieselten von den unteren Zweigen. Eines legte sich sanft auf ihre Hand. Die Berührung war kaum spürbar.
    »Rosa?«
    Sie drehte sich um, noch immer im Kampf um ihr Gleichgewicht.
    »Ich hab dich überall gesucht«, sagte ihre Schwester. »Was tust du denn hier?«
    Kein Wort, dachte Rosa. Kein Wort über den Tiger. Oder sie werden glauben, dass du noch verrückter bist, als alle sagen, und schicken dich sofort nach Hause.
    »Fuck, Rosa – du willst nicht in dem T-Shirt zur Beerdigung gehen, oder?«
    s
    Schwarze Limousinen reihten sich auf der schmalen Bergstraße aneinander. Im Schritttempo rollten die verspiegelten Luxuskarossen die Serpentinen hinauf, so langsam, als wären sie Teil einer gewaltigen Inszenierung.
    Rosa blickte aus dem Seitenfenster und beobachtete, wie die endlose Reihe der Fahrzeuge weiter oben über den braunen Bergkamm kroch, schimmernde Umrisse vor dem tiefblauen Himmel.
    »Sie kommen von der ganzen Insel«, sagte Zoe. Sie saß neben Florinda im weiträumigen Heck der Limousine. Rosa hatte die zweite Rückbank für sich allein und saß den beiden gegenüber.
    »Warum kommen sie nicht mit ihren Helikoptern?«
    »Pietät hat deine Mutter dir offenbar nicht vermittelt«, sagte ihre Tante.
    »Die soll ich von dir und deinen Freunden lernen.«
    Mit ihren riesigen Sonnenbrillen blickten Florinda und Zoe wie zwei Gottesanbeterinnen zu Rosa herüber. Mehr noch als zuvor kam sie sich wie eine Fremde vor, die nur versehentlich in diesen Wagen, in diese wilde, archaische Landschaft geraten war. Die enge Bindung zwischen den beiden war nicht zu übersehen. Obwohl Zoe ihrer Mutter so ähnlich sah, wirkten Florinda und sie in diesem Moment, ganz in Schwarz und mit identischen Sonnenbrillen, wie Zwillingsschwestern.
    Rosa sah sich vierfach in schwarzen Gläsern gespiegelt. Ihr langes Haar war zu widerspenstig, um mit einer Bürste gebändigt zu werden. Sie hatte es mit einem Tuch am Hinterkopf hochgebunden, damit Zoe Ruhe gab und ihr keinen weiteren Vortrag über angemessene Kleidung und demutsvolles Auftreten hielt. Überhaupt, Demut – dass dieses Wort einmal über die Lippen ihrer Schwester kommen würde, hätte sie vor zwei Jahren für undenkbar gehalten.
    Der Fahrer, einer der Männer aus dem Dorf, die seit Generationen für die Alcantaras arbeiteten, lenkte die Limousine in die nächste Kurve. Genuardo und das Castello Carnevare mussten ganz in der Nähe sein, aber beides hatte sie noch nicht zu sehen bekommen. Hinter einem der kahlen, sonnenverbrannten Hügel, vermutete sie. Hier gab es nichts als struppiges Gras, an dem da und dort Rinder kauten und verwundert der Fahrzeugkolonne nachblickten.
    In einer Staubwolke erreichten sie den Bergkamm. Rosa rutschte zur anderen Seite ihrer Sitzbank und erblickte den Friedhof. Er war von einer drei Meter hohen Mauer umgeben und lag hier oben auf diesem Hügel als kantige, kompakte Festung, weiß und blassgelb wie die weite Landschaft, die sie seit einer Stunde durchquerten. Hinter der Mauerkrone ragten die spitzen Dächer zahlloser Familiengrüfte empor, ein Wald aus Steinkreuzen und Heiligenfiguren. In Süditalien war es Sitte, dass wohlhabende Familien ihren Toten aufwendige Kapellen als letzten Ruheort errichteten, und auf den Friedhöfen reihte sich eines dieser reich verzierten Bauwerke an das andere.
    Ein warmer
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